Kaiserslautern Die Schönheit der Chance

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Ein Buch, das Herzen berührt hat; selbst als Schullektüre. Ein Buch, dessen Bühnenversion alljährlich meistgespieltes Stück deutscher Theater ist: Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ zu verfilmen, ist eine große Aufgabe. Regisseur Fatih Akin hat sie gestemmt und ein Roadmovie mit ganz eigener Note gedreht. Sein „Tschick“ ist ein Jugendfilm auf der Höhe der Zeit. Einige Puristen jedoch dürften Herrndorfs besonderen Ton zwischen Staunen und Weltumarmung vermissen und sich über die Besetzung wundern.

„Tschick“ war 2010 der Durchbruch für den in Berlin lebenden Schriftsteller Wolfgang Herrndorf, der kurz darauf die Diagnose Hirntumor erhielt und nun schon über zwei Jahre lang tot ist. „Tschick“ aber bleibt. Sein schmaler Roman über zwei jugendliche Antihelden feiert Freundschaft und Außenseitertum, den Mut zum Risiko wie zu großen Gefühlen, positives Denken und das Zugehen auf andere. Und er ist ein Lob auf die unerwartete Schönheit der Provinz. In die Walachei, also grob nach Rumänien, wollen die 14-jährigen Helden, die zunächst nur das gemeinsame Außenseiterdasein in ihrer Berliner Schulklasse zusammengeführt hat: Deutschrusse Andrej, genannt „Tschick“ und erst vier Jahre im Land, und der scheinbare Langweiler Maik, Sohn eines gescheiterten Immobilienentwicklers und einer alkoholkranken Mutter. In den Ferien ziehen sie los, in einem „ausgeliehenen“ alten Lada, verfahren sich bald im ländlichen Brandenburg und treffen dort auf zwar eigentümliche, aber doch stets freundliche Menschen, selbst wenn auf sie geschossen wird. Oder ihnen eine verwahrloste Ausreißerin Schimpftiraden entgegenschreit, bevor sie sich in ihre Herzen schleicht. Es ist „der beste Sommer von allen“, meint Ich-Erzähler Maik, der die Leser mitreißt in diese kleine Utopie über den Zauber unbekümmerter Entdeckerlust, die heute vielleicht noch wichtiger ist als vor sechs Jahren. „Seit ich klein war, hatte mein Vater mir beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch“, sinniert Maik gegen Ende. „Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.“ Diese Sätze gelten vielen „Tschick“-Fans als Quintessenz des Buches. Regisseur Fatih Akin aber ist diese Stelle „ein bisschen egal. Das ist so eine Waldorf-Montessori-Nummer. So sehe ich das Leben nicht“, erklärte er sich im offiziellen Interview zum Film. Ihn habe eher Maiks Liebeskummer interessiert: Tatjana, das schönste Mädchen der Klasse, verschmäht ihn, was ihn nach seiner Reise mit Tschick dann aber gar nicht mehr so stört. Akins Film ist dann aber doch mehr als eine Lehrstunde über Liebesnöte. Schließlich hat der Hamburger großes Talent für Roadmovies, wie er schon bei „Im Juli“ bewiesen hat. Und so leuchtet sein Brandenburg in schönsten, etwas grellen, aber wunderbar einladenden Farben. Und Maik und Tschick sind einfach supersympathisch. Maiks Stimme aus dem Off begleitet die große Fahrt und spricht jene wohlbekannten Sätze aus dem Roman. Die Dialoge von Akins „Tschick“ bestehen zu 99 Prozent aus Original-Romanzeilen, die zunächst der Herrndorf-Vertraute Lars Hubrich in Drehbuchform brachte. Akin stieß spät zum Projekt, ein erster Regisseur hatte absagen müssen. Das Drehbuch überarbeitete Akin dann aber doch selbst noch. Etliche Buch-Episoden fehlen, die Begegnung mit dem schießwütigen Weltkriegsveteranen etwa, ebenso jene mit der hilfsbereiten Sprachtherapeutin. Auch frische Schauplätze hat Akin ausgewählt: Maik und Tschick verbringen die Nacht, die sie mit dem Universum versöhnt, nicht auf einem Hügel, sondern unter einem Windrad. Aus dem Weizenfeld, durch das der Lada einmal pflügt, wird ein Maisfeld. Und der anfängliche Liebesbeweis, Maiks Zeichnung für die angebetete Mitschülerin Tatjana, zeigt nicht Beyoncé, sondern Tatjana selbst. Diese Abschweifungen stören aber keineswegs. Akins Film ist schließlich ein eigenes Werk, das auch Zuschauer anspricht, die das Buch nicht kennen. Von einem weitgehend unbeschwerten Sommer erzählt Akin und von einer Freundschaft, die sich recht schnell zu einer eingeschworenen entwickelt. Die Filmhelden sind selbstbewusster und hübscher als die Romanhelden, weniger ängstlich und schüchtern. Dadurch wird der Film allgemeingültiger, kommt sicher besser bei der Masse an, wirkt aber auch glatter. Herrndorfs Tschick vor allem ist undurchdringlicher und verwegener als Akins Version. Daran müssen sich Leser, denen gerade dieser Junge mit dem laut Roman starken russischen Akzent ans Herz gewachsen ist, erst gewöhnen. Der Film-Tschick spricht akzentfrei und wirkt wie ein leicht tapsiger, gutmütiger Schlaumeier mit durchaus eigenwilligem modischen Chic. Akin hat beim Casting keinen „typischen Deutschrussen“ ausgewählt, sondern tatsächlich einen Mongolen, den 2001 in München geborenen Anand Batbileg. Im Buch wird Tschick so beschrieben: „Er war ... so mittelgroß, trug ein schmuddeliges weißes Hemd, an dem ein Knopf fehlte, 10-Euro-Jeans von KiK und braune, unförmige Schuhe, die aussahen wie tote Ratten. Außerdem hatte er extrem hohe Wangenknochen und statt Augen Schlitze. Sah aus wie ein Mongole, und man wusste nie, wo er damit hinguckte. (…) Seine Unterarme waren kräftig, auf dem einen hatte er eine große Narbe. Die Beine relativ dünn, der Schädel kantig.“ Anand Batbileg nun ist ein groß gewachsener, brav wirkender Junge, dem Tschicks Bonmots daher gerade anfangs nicht so leicht über die Lippen zu gehen scheinen. Man hätte der Regie mehr Zeit für die Arbeit mit den Kinderdarstellern gewünscht. Manche Zeile wirkt doch eher gelernt statt gelebt. Bei Tristan Göbel als Maik ist es ähnlich, auch wenn der beim Dreh 13-Jährige anders als Anand Batbileg schon Filme gedreht hat, darunter „Winnetous Sohn“ und „Westen“. Wie begrenzt die schauspielerischen Mittel der Jungdarsteller sind, fällt spätestens auf, als die großartige Mercedes Müller, die mit 19 allerdings zu erwachsen für die Rolle wirkt, als Müllkippenmädchen Isa auftaucht und im Nu zum Star des Films wird. Wobei auch ausgewiesene Romanfans sich am Ende an den leicht altklugen Film-Maik und den netten Tschick gewöhnt haben dürften, der noch einen ganz eigenen Spruch prägen darf, der nicht aus dem Buch stammt: „Ohne Sinn“, sagt der Film-Tschick gern kopfschüttelnd als Kommentar, wenn er sich über die Eigenheiten seiner Mitmenschen wundert. Da ist er dann, der Akin-Sound. Eine stimmig coole Musikauswahl – von Seeed über die Beginner, K.I.Z. und Bilderbuch zu den Beatsteaks und Dirk von Lowtzow – prägt den Film ebenfalls. Aber Richard Clayderman bleibt als Gag erhalten.

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