Kaiserslautern Die letzte Fahrt

Immer, wenn es Sommer wird, beginnen wir mit dem Erzählen. Seit fast 20 Jahren geht das so. Wir laden Schriftsteller dazu ein, Kurzgeschichten zu schreiben. Und Journalisten der RHEINPFALZ. Das Thema dieses Mal lautet: „Ein Sommertagstraum“. Heute schreibt Sebastian Böckmann.

Es war kaum nach sieben Uhr, als er die Maschine aus der Garage schob. Der Tag würde heiß werden. Das war gut, denn seine alte Lederjacke war ihm eng geworden. Nur mit einem T-Shirt drunter würde es aber wohl gehen. Seine Frau hielt natürlich nichts davon, dass er wieder fahren wollte. Viel zu gefährlich, fand sie. Aber sie war nicht da, war mit ihren Schülern auf Klassenfahrt, und er hatte sich freigenommen. Dass er auf der Veterama einen Bastler kennengelernt hatte, der ihm die 500er nach all den Jahren des Stillstands unter einer Plane ganz hinten in der Garage für wenig Geld wieder auf die Straße gebracht hatte, das hatte sie mal mit einem Stirnrunzeln, dann wieder mit Spott kommentiert. Er hatte schlecht geschlafen, war früh aus dem Bett gekrochen und hatte nur einen Kaffee im Stehen getrunken. Wahrscheinlich hatte die Mischung aus Vorfreude auf seinen ganz persönlichen Sommertraum und ein bisschen Furcht ihn nicht schlafen lassen. Heute wollte er sein altes Revier durchstreifen. Er öffnete den Benzinhahn und drehte mit dem Kickstarter den Motor durch, bis die Markierung in dem kleinen Schauglas auftauchte. Ein kräftiger Tritt, und der Einzylinder erwachte sofort zum Leben. Das raue Bollern ging sofort in einen ruhigen Leerlauf über. Auf dem Chromrand des wuchtigen Scheinwerfers, der sanft vor sich hin vibrierte, zitterte das Morgenlicht. Mit einem harten Klack rückte die Schaltgabel den ersten Gang ein. Er ließ die Kupplung kommen. Und dann war er unterwegs. Natürlich war er sich bewusst, was er da trieb. Auf dem Motorrad seiner Studententage in die Landschaft seiner Jugend unterwegs – das war nicht nur Nostalgie. Das war vielleicht nur eine milde Form, aber es war definitiv Midlife-Crisis. Er schnürte über die Weinstraße, durch die Dörfer, zwischen den Weinbergen hindurch. Aber er hatte keine Augen für die Schönheiten der Pfalz. Rheinhessen durchquerte er zügig, er wollte schnell an den Rhein. Der Motor lief ruhig, er fühlte sich wieder fast eins mit der Maschine. Kurz hinter Bingen fuhr er auf die grüne Wand zu, die den Eingang zum Mittelrheintal zu verstellen schien. Er tauchte ein in tiefe Schatten und Kühle. Aber der Verkehr war dicht, und längst nicht jeder war so entspannt unterwegs wie er. Kupplungs- und Bremshand waren stark gefordert, vor allem aber seine Aufmerksamkeit und seine Instinkte. Er überlegte nur kurz, ober er einen Abstecher nach Bacharach machen sollte, aber er erinnerte sich mit Schaudern eines grauen Wintertages vor zwei Jahren und entschied sich dagegen. Damals waren die Schaufenster ausgeräumt, kein Mensch auf der Straße. Jetzt waren die Touristen in Scharen zurück und täuschten Leben vor. Wohnmobile standen auf dem Parkplatz am Fluss, erste Busse parkten ein und spien Besucher aus. Schnell kam die Pfalz bei Kaub in Sicht, gedrungen wie der Rumpf eines alten Dampfschleppers im Strom. Er rollte auf dem Radweg aus, bockte mit ein wenig wackeligen Knien die Maschine auf, setzte sich auf die warme Ufermauer und rieb sich die Finger. Er war die Vibrationen nicht gewohnt. Da waren sie wieder, die Erinnerungen. Sie waren mal in einer Sommernacht bei Niedrigwasser vom rechten Ufer aus rübergeschwommen zur Burg im Fluss. Nur aus Blödsinn, als Mutprobe. Alles war gutgegangen. Aber Frank, der damals natürlich dabei gewesen war, war ein paar Jahre später ertrunken, als sein Ruderboot oberhalb der Loreley gekentert war. Drei hatten sich retten können, aber er war nie gefunden worden. In St. Goar der nächste Halt. Während er auf die Fähre wartete, sah er Ellen wieder. Irrtum ausgeschlossen. Er zögerte nur einen Augenblick, dann war er froh, dass er den Helm auf hatte. Sie war einer der hellsten Köpfe in seiner Klasse gewesen, aber ihre Eltern hatten sie nicht studieren lassen. Und wenn er sich den harten Zug um ihren Mund vergegenwärtigte, hatte er nicht den Eindruck, dass dieser Fehler je behoben worden war. Bloß kein „und was machst du jetzt so?“. Er ließ die Maschine die Rampe runterrollen und kam vor einem jungen Kassierer zum Stehen. „Ferienjob? Hab’ ich hier auch oft gemacht“, sagte er. „Mhhm, 2,80 einfach“, entgegnete der Kassierer. „Ist der Chef da?“, versuchte er es noch mal in Erinnerung an den damals nahezu Gleichaltrigen. „Heute nicht, morgen wieder.“ Der junge Mann ließ ihn stehen und wandte sich einem Personenwagen zu. Ein paar Hundert Meter stromab stand seine alte Schule, renoviert und erweitert, und sofort kamen die Erinnerungen hoch. An die Skatspiele im zugigen Pausenraum, an die Sportstunden auf dem asphaltierten Hof, wenn der Sportplatz am Rhein mal wieder vom Hochwasser überschwemmt war, an die Raucherecke vor dem Tor und an die Kneipe gegenüber, in der sie manche Freistunde verbracht hatten. Aber er sah das mit den Augen eines Fremden, es ging ihn nichts mehr an. Nach einem kurzen Rundgang zog es ihn weiter ins Seitental, er wedelte durch enge Kehren am Bach entlang und lauschte dem Echo des Motors, wenn sich der Schall an Leitplanken oder Felsen brach. Es war feucht und kühl. Plötzlich blinzelte das Sonnenlicht durch die Baumwipfel. Er hatte das Plateau erreicht und musste scharf rechts abbiegen, um zur Loreley zu gelangen. Der Wald wich zurück, vor ihm öffnete sich eine weite Lichtung mit Feldern und Streuobstwiesen. Am unteren Ende der Fahrstraße stand das Hotel, das er schon immer für den Inbegriff des Spießigen gehalten hatte. Der Blick von den Felsplatten, die von Hunderttausenden von Füßen glatt geschliffen waren, hinab ins Rheintal war allerdings atemberaubend. Doch dafür war er nicht gekommen. Er wollte die Freilichtbühne sehen, das Halbrund aus gemauerten Stufen und die Bühne mit der Zeltkonstruktion darüber. Dort hatten große Rockkonzerte stattgefunden, und er hatte sie fast alle besucht. Für Karten hatte das Geld meist nicht gereicht, aber mit der Zeit kannte er die Schlupflöcher im Zaun oder die Kriechpfade im Steilhang, sodass er nur selten von draußen zuhören musste. Genesis, Police, Uriah Heep, Joan Baez – er hatte manche Sommernacht mit Freunden dort zugebracht. Damals hatte es allerdings auch noch keine Sommerrodelbahn gegeben und kein Besucherzentrum, die seine verklärten Erinnerungen störten. Der Rücken tat ihm weh, er legte sich in eine ungemähte Wiese und hörte ein paar der alten Stücke, die er sich eigens aus dem Internet runtergeladen hatte. Aber der Zauber wollte sich nicht einstellen, er erkannte die Musik als vergeblichen Versuch, auf Zeitreise zu gehen. Was ihn früher bewegt hatte, sagte ihm heute nicht mehr viel. Er schaltete den MP3-Spieler aus und döste im Sonnenschein vor sich hin, versuchte nachzuholen, was ihm die Nacht an Erholung vorenthalten hatte. Als er wieder zu sich kam, beschloss er, es doch einmal mit einem Kaffee auf der Hotelterrasse zu versuchen, unter Japanern und älteren Touristen, die, wenn er ehrlich war, gar nicht so viel älter waren als er selbst. Nur dass sie sich nicht in zu eng gewordene Lederjacken quetschten, die nicht mehr ganz altersgerecht waren. Er wollte noch das Weingut unten im Tal besuchen, aus dem eine Schulfreundin gestammt hatte und wo er ein paar Jahre lang bei der Lese geholfen hatte. Die junge Frau im Büro kannte er nicht, so wie er überhaupt kaum noch etwas wiedererkannte. Sie sah ihn ein wenig skeptisch an, als er den Weinberg an der Loreley beschrieb, aus dem er gerne noch mal einen Riesling trinken wollte, aber sie brachte ihm die gewünschte einzelne Flasche. Er steckte sie vorne in die Lederjacke, weil er keinen Rucksack und keine Packtasche dabei hatte. Da würde sie nicht lange kühl bleiben, aber er brauchte auch nicht lange bis zum Parkplatz an der Bundesstraße, und den Durchgang unter den Bahngleisen fand er auch sofort. Dann kletterte er nicht ohne Mühe die schmalen Treppchen hoch, von Weinbergsterrasse zu Terrasse, bis er den Fluss tief unter sich liegen sah. Der Schiefer strahlte eine enorme Hitze ab, er würde aufpassen müssen, dass er es mit dem Wein nicht übertrieb. Was im Übrigen für Kopf und Magen galt. Den weißen Lieferwagen mit der blauen Schrift unten auf dem Parkplatz hatte er schon vor geraumer Zeit bemerkt, aber sich nichts dabei gedacht. Doch dann schreckte er aus seinen Träumereien hoch, als der Wagen zurücksetzte und die Hecktüren aufschwangen. Zwei kleine Punkte machten sich an seinem Motorrad zu schaffen, und ehe er noch richtig wusste, was da im Gang war, hatten sie es in den Laderaum gewuchtet. Sein Schreien ging im Lärm des Zuges unter, der weit unter ihm in der Tunnelöffnung verschwand. Er nahm noch einen Schluck, dann schleuderte er die Flasche in die Hecken und machte sich an den Abstieg. Auf dem Parkplatz bat er einen Autofahrer, ihn zum nächsten Bahnhof mitzunehmen. Es wurde eine längere Fahrt daraus, aber als sich schließlich ihre Wege trennten, traute er seinen Augen nicht: Da stand ein Lieferwagen, der dem von vorhin glich. Er kreiste um das Fahrzeug und versuchte, durch eine kleine Heckscheibe hineinzuspähen. „Ist was?“, fragte der drahtige junge Mann mit den Rastalocken, der plötzlich hinter ihm auftauchte. Er sah nicht unsympathisch aus. „Naja, ihr habt Schlüssel und Papiere vergessen“, sagte er und griff in die Taschen der alten Jacke. „Und die brauche ich eigentlich auch nicht mehr“, sagte er und ließ sie von den Schultern gleiten. Er war spät zu Hause. Alle Knochen taten ihm weh. Aber er wusste, dass er gut schlafen würde in dieser Nacht.

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