Kaiserslautern Überfülle des Wohllauts

„100 Jahre, 100 Sinfonien“ heißt unsere Serie, in der wir 100 sinfonische Werke vorstellen, die zwischen 1800 und 1900 entstanden sind. Heute geht es um das nächste Werk eines der wichtigsten Sinfonie-Komponisten der Musikgeschichte: 1896 vollendet Gustav Mahler seine dritte Sinfonie.

Man mag sich das nach den gewaltigen Ausmaßen und vor allem angesichts der Anzahl von Mitwirkenden kaum vorstellen: Aber Gustav Mahler wollte mit der Dritten seine Zweite, „Auferstehungssinfonie“ genannte, noch überbieten. Es sollte ein eigener sinfonischer Kosmos entstehen, für den ihm quasi jedes Mittel recht war: „Aber Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen.“ Dies könnte man fast als Lebensmotto, als Quintessenz seines kompositorischen Schaffens verstehen: Jede einzelne Sinfonie versucht diesem universalistischen Anspruch gerecht zu werden. Jede Sinfonie ist eine Welt für sich. Und diese Welt ist dann tatsächlich nochmals größer geworden, auch bunter, abwechslungsreicher. Mahlers Dritte dauert ungefähr 90 Minuten, alleine der erste von sechs Sätzen ist fast schon so lange wie eine Brahms-Sinfonie. Das äußere Formmodel hat damit die klassische Viersätzigkeit längst überwunden, und auch die programmatische Ausrichtung scheint mit der Traditionslinie Beethoven-Schumann-Brahms zu brechen. Mahler hat dieses Programm dann nicht mitdrucken lassen, hat die Sinfonie nur in zwei Abteilungen unterteilt, wobei der gigantische erste Satz alleine den ersten Abschnitt ausmacht. Im Programm wird dem lyrischen, in diesem Falle ja dem komponierendem Ich, viel erzählt: von den Tieren im Wald, von den Menschen auch, den Engeln, schließlich im Finale: „Was mir die Liebe erzählt.“ Es ist ein langer Weg dahin. Da wäre zunächst einmal der mit einem, wie Mahler es nannte, „Weckruf“ beginnende Eröffnungssatz. Acht Hörner stimmen ihn an, ehe es marschmäßig, später auch dezidiert trauermarschmäßig weitergeht. Es ist ein buntes Kaleidoskop, das Mahler ausbreitet, alle klanglichen Möglichkeiten des Orchesterapparates ausnutzend. Es ist das ganze Mahler-Universum, das hier abgerufen wird, zwischen großem Pathos, heftiger Emphase und fast schon naiver Banalität. Alles schließlich abgeschmeckt mit einer Prise an Groteskem, Bizarrem. Das Geschehen steuert – nach Mittelsätzen, in denen auch die menschliche Stimme wieder zu ihrem Einsatz kommt – auf den Schlusssatz zu. Wie so oft in der Geschichte der Sinfonie. Und doch hier völlig anders. Wir haben kein schnelles Kehraus-Finale, auch keinen triumphalen Schlussjubel, sondern ein geradezu monumentales Adagio. Eine schier maßlose Fülle des Wohllauts. Eine unendliche Melodie. Eine gewaltige Feier der Schönheit, die sich immer exakt an der Grenze zum Trivialen entlang bewegt. Mahler-Kritiker haben dies moniert, haben ihm quasi den Verrat an der Moderne vorgeworfen. Welch ein Unfug! Zum einen gehört das unverstellt Schöne, der naive Wohlklang zu Mahler schlichtweg hinzu, zum anderen muss man sich nur vorurteilsfrei auf diesen Finalsatz einlassen: Wer davon unberührt bleibt, dem ist mit Mahler sowieso nicht mehr zu helfen.

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