Grünstadt Wer springt schon rückwärts vom Dach?

Einen neuen Blick auf das chinesische Riesenreich eröffnet der Roman „Beijing Baby“.
Einen neuen Blick auf das chinesische Riesenreich eröffnet der Roman »Beijing Baby«.

Die lauten Sprachübungen im Hof der Theaterakademie in Peking lassen den deutschen Studenten Philipp hochschrecken. Es ist zehn nach sechs; gefühlt also mitten in der Nacht. Doch er hat sich nicht getäuscht. Was wie ein allmorgendliches Ritual klingt, hatte an diesem Tag noch einen anderen Ton: einen Angst erfüllten Schrei! Die Bestätigung folgt, als ein anderer Student im Hof über die Leiche von He Lin stolpert. Sie scheint von der Dachterrasse des Gebäudes gefallen zu sein. Unfall? Zunächst sieht es danach aus, denn offenkundige Feinde scheint die Studentin nicht gehabt zu haben.

Dennoch nimmt die kürzlich nach Peking versetzte Kommissarin Xiang Xia mit ihrem Partner Inspektor Wang Ermittlungen auf. Sie lernt schnell, dass es vor allem darum gehen soll zu verhindern, dass die Partei irgendwie in die Angelegenheit verwickelt wird. Das gestaltet sich schwierig, denn vom Pathologen Doktor Fan kommt jener Satz, den eigentlich niemand hören wollte: „Wer springt schon rückwärts vom Dach?“ In Zeiten, in denen das transatlantische Verhältnis fast tagtäglich Twitter-Torpedierungen aus dem Capitol ausgesetzt ist, wendet sich derzeit der Blick mit viel Hoffnung auf neue Partnerschaften in Richtung China. Dass dabei das China-Bild vor allem auf alten Zöpfen und einer gewaltigen Unkenntnis basiert, wird mal so hingenommen. Der Autor Volker Häring ist kundig. Es gibt von ihm in der Reihe „151 Momentaufnahmen“ ein Buch über China, er betreibt seit Jahren eine Reiseagentur in Sachen „China by Bike“ und ist entsprechend im Land häufiger Gast, nachdem er auch mehrere Jahre dort gelebt hat. Der Kriminalfall selbst hat nicht jenen Zug in der Ermittlung wie etwa in Andreas Neuenkirchens Japan-Romanen, ebenfalls bei Conbook erhältlich. Wer kriminalistisches Gespür besitzt, hat bald eine Ahnung davon, wie es abgelaufen sein könnte. Doch schmälert dies das Interesse an der Lektüre keineswegs. Facettenreich sind die Schilderungen des Lebens in den Hutongs, den Gassen der Pekinger Altstadt. Animierend viel wird im Roman gegessen und auch getrunken, Besuche in zwielichtigen Karaoke- und Massage-Etablissements gehören ebenso zu den Bereichen, in denen es zu ermitteln gilt, wie auch scheinbar Kader der Partei ins Geschehen verwickelt sind. Gute Länderkrimis sollten eine nachhaltig im Gedächtnis bleibende (Buch-)Reise in das aufgerufene Land sein. „Beijing Baby“ ist genau das. Ein ansprechender Krimi an einem authentischen Schauplatz, dargeboten mit einem ausführlichen Glossar zur Orientierung und dem schlussendlichen Wunsch beim Leser, das Thema vertiefen zu wollen. Ein anregender Fernost-Trip! Lesezeichen Volker Häring: Beijing Baby. Conbook 2016, Broschur, 318 Seiten, 12,95 Euro.

Rainer Scheer
Rainer Scheer
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