Rhein-Pfalz Kreis Frankenthaler erlebt Weltgeschichte hautnah

Diese Bilder gingen im November 1989 um die Welt: Die Mauer ist offen, die Menschen feiern in Berlin.
Diese Bilder gingen im November 1989 um die Welt: Die Mauer ist offen, die Menschen feiern in Berlin. Foto: dpa

Ludwigshafen/Berlin: Es gibt Geschichten im Leben, die klingen wie aus einem Märchen. Horst Nitsch hat so eine erlebt. Der gebürtige Berliner, der viele Jahre in Ludwigshafen arbeitete und in Frankenthal wohnte, hatte für den November 1989 eine Reise mit der Volkshochschule nach Berlin organisiert. Was als Ausflug begann, wurde zu einem unvergesslichen Erlebnis.

Horst Nitsch hat in seinem Leben viel erlebt und viel gemacht. Der 83-Jährige ist für sein Engagement auch mit der Verdienstmedaille des Landes Rheinland-Pfalz geehrt worden. Seit 20 Jahren wohnt er in Speyer, davor war er aber in Ludwigshafen beruflich stark eingespannt und engagierte sich in Frankenthal, wo er wohnte, etwa als SPD-Stadtrat. Dass er ein Zeitzeuge des Mauerfalls wurde, sei „purer Zufall“, betont Nitsch. Zwar war das Jahr 1989 ein politisch extrem spannendes, und auch die Bürgerbewegung in der DDR gewann immer mehr Kraft, „aber es konnte doch keiner ahnen, dass die Mauer aufgemacht wird und wir gerade dort sind“.

Ab 1973 war Horst Nitsch bei der Stadtverwaltung Ludwigshafen tätig. Zunächst im Jugendbereich, wo als Ergebnis seiner Ideen unter anderem die Jugendfarm in der Pfingstweide, das Spielmobil und Abenteuerspielplätze entstanden. Später wechselte er zur Volkshochschule, wo er auch Studienfahrten auf die Beine stellte. 1989 kam die Idee auf, auch mal Berlin – und damit Nitschs Heimatstadt – zu besuchen. Sein Bruder (heute 87) lebte noch immer dort und half dabei, ein Programm zusammenzustellen. Am 5. November 1989 machten sich dann die 45 Teilnehmer aus Ludwigshafen und der Umgebung auf den Weg. Die Gruppe bezog das Hotel Holland, das es nicht mehr gibt, am Kurfürstendamm und begann mit dem Besichtigungsprogramm.

Die Errungenschaften der DDR

Am 8. November ging es „rüber“ nach Ostberlin. Nitsch kann sich an den Tag noch gut erinnern, denn dieser zeigte, wie unvorstellbar aus damaliger Perspektive die Ereignisse des folgenden Abends waren. „Wir wurden noch ganz offiziell in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik begrüßt“, sagt Nitsch und schmunzelt. Vor allem aber die Rückfahrt ist ihm noch in bester Erinnerung: Bei der Kontrolle bestieg ein Offizier der Volksarmee den Ludwigshafener Bus und erklärte „in arroganter Art und Weise die Errungenschaften der DDR und das Wunder des Sozialismus“. Es sei eine absurde Situation gewesen, die Gruppe habe sich in dem Moment sehr unwohl gefühlt und sei einfach nur froh gewesen, als der Offizier den Bus wieder verlassen hatte und die Fahrt nach Westberlin fortgesetzt werden konnte.

Vom 9. November, ein Donnerstag, weiß Horst Nitsch noch, dass die Reisegruppe abends beim Kabarett mit den „Stachelschweinen“ war. „Als wir gegen 22 Uhr an der Ecke Kurfürstendamm/Joachimsthalerstraße standen, sahen wir auf der großen Leinwand die Nachricht: Die Mauer ist geöffnet.“ Ungläubiges Staunen. Nitsch ging in die nächste Kneipe und rief in die Runde: „Habt ihr schon gehört, die Mauer wurde geöffnet. Daraufhin drehte sich einer um und meinte, ich glaube, der spinnt.“ Doch Nitsch ließ nicht locker. Also wurde der Fernseher in der Kneipe angeschaltet: „Der hat ja recht, riefen dann alle.“

Erst um 2.30 Uhr im Bett

Die Zeit danach beschreibt Nitsch als Emotionen pur. „Der Ku'damm war voller Menschen, so etwas habe ich noch nie erlebt.“ Er habe sich treiben lassen und viel beobachtet: „Erst um 2.30 Uhr war ich dann im Bett.“ Das Reiseprogramm für den 10. November wurde dann geändert. „Wir sind zur Bornholmer Brücke gefahren, haben beim Trabi-Klatschen mitgemacht, also alle begrüßt, die vom Osten in den Westen gefahren sind.“ Besonders in Erinnerung sind ihm noch die „langen Schlangen“ an allen Banken, „weil ja jeder das Begrüßungsgeld wollte“.

Und an noch ein Detail erinnert sich Horst Nitsch bei all dem Trubel ganz besonders: die Herzlichkeit der Menschen. „Es war so schön, alle waren einfach nur begeistert.“ In einem kleinen Laden habe er miterlebt, wie drei Ostdeutsche einkaufen wollten. „Die Verkäuferin ging zu den Leuten und hat ihnen einfach alles mitgegeben, was sie haben wollten.“ Überall seien Trabis und Menschen gewesen. „Man kam sich schon bekloppt vor, mitten in so einem Trubel zu landen.“

Alles voller Trabis

Er empfinde es als großes Geschenk, so ein „Welterlebnis, ein Stück Weltgeschichte“ hautnah und direkt mitbekommen zu haben. Auch bei der Rückfahrt am 11. November habe noch Ausnahmezustand geherrscht. „Alles war voller Trabis, wir haben vom Hotel drei Stunden bis zur Stadtgrenze gebraucht“, sagt Nitsch. Bei der Rückreise seien alle ergriffen gewesen von diesen Eindrücken. „Unsere Leute haben auch geweint.“ Wenn sich heute Teilnehmer der damaligen Reise begegnen, gehe es im Gespräch gleich um diese Erlebnisse beim Mauerfall. Dazu gehörte auch am Abend des 10. November die Teilnahme an politischen Reden: So sprach Kanzler Helmut Kohl (CDU) bei der Gedächtniskirche und wurde ausgebuht, als er seine Verdienste bei der Entwicklung herausstellte, und SPD-Vorsitzender Willy Brandt bekam für seinen Satz „Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört“ viel Applaus.

Und wie bewertet Nitsch, der im Ruhestand noch promoviert hat, heute die politische Entwicklung und die bestehende Skepsis zwischen Ost und West? „Im Osten wurde viel gemacht, aber das reicht noch nicht. Es gibt tolle Städte, aber Nachholbedarf auf dem Land, da ist noch viel zu tun.“

Horst Nitsch
Horst Nitsch Foto: ax
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