Bad Dürkheim Mein kleines Straßenparlament

Seit dem Wochenende weiß ich, was wir in Berlin dringend einführen müssen: eine Kerweredd und einen Ortsgemeinderat. Sie denken jetzt: Was schreibt der für einen Blödsinn. Aber Moment: Bei der Kerweredd am Sonntag in Leistadt habe ich als Ortsfremder viel erfahren über das Wohl und Wehe im Dorf. Gerüchte, Tratsch und kleine Frechheiten sind die Zutaten. Und ich musste lachen, als die Geschichte von den Leistadt-er Musikfans erzählt wurde, die auf der Fahrt zu einem Konzert nach Südtirol feststellen mussten, dass sie die Eintrittskarten zuhause vergessen hatten. Und die Sache mit der Ziege, die im Ort herumirrte ... Warum ich so etwas in meinem Berliner Kiez gerne hätte? Weil keine Zeitung in der Hauptstadt Lokalredaktionen in den Stadtvierteln unterhält. Über mein Friedenau erfahre ich im „Tagesspiegel“ fast nichts, vielleicht ein bisschen etwas in der „Morgenpost“ und gar nichts in der „Berliner Zeitung“. Wann beginnt die Sanierung des Rathausplatzes, warum wird in der Lauter-straße das Trottoir aufgerissen, wieso macht die Bio-Bäckerei zu? Gäbe es eine Kerweredd einmal im Jahr – naja, zumindest über die kuriosen Sachen wüsste man dann Bescheid. Und für den Ortsgemeinderat in meinem Kiez spricht auch einiges. In Gemeinden von der Größenordnung – sagen wir – Dackenheims (rund 460 Einwohner bei der letzten Kommunalwahl) bilden acht Bürger den Ortsgemeinderat. Ich rechne: In der Straße, in der ich in Berlin wohne, leben auf der einen Seite geschätzt rund 250 Menschen. Auf der anderen Seite sind es nochmals rund 250. Nur einmal angenommen, die Gemeindeordnung würde dort auch gelten wie in Dackenheim, hätten wir allein in dieser einen Straße Anspruch auf ein Ratsgremium mit acht Mitgliedern. Mir ist schon klar, dass man so nicht rechnen kann. Außerdem haben wir ja keine Friedhofssatzungen, die wir ändern müssen. Wir haben kein Feuerwehrhaus und kein Dorfgemeinschaftshaus. Natürlich gibt es auch in den Berliner Bezirken eine demokratische Vertretung, die Bezirksverordnetenversammlung. Mein Viertel gehört zum Bezirk Tempelhof-Schöneberg, und in dessen Lokal-Parlament vertreten 55 Abgeordnete rund 336.000 Menschen. 336.000 Menschen! Das ist von der Menge her knapp zweimal Ludwigshafen. Ein Abgeordneter pro 6109 Einwohner. In Dackenheim kommt ein Ratsmitglied auf 57 Einwohner. Direkte Demokratie – fast jedenfalls. Ich finde, man kann den Ortsgemeinderat nicht hoch genug einschätzen, auch wenn viele meinen, das Gremium habe nicht viel zu entscheiden. Es müsste ein Ansporn für jeden im Dorf sein, sich für den Rat zur Verfügung zu stellen. Viele Kommunalpolitiker sorgen sich aber, dass „die Leit“ kein Interesse haben, sich zu engagieren. Ich weiß auch keinen oberschlauen Hauptstadtkorrespondenten-Rat. Aber ich hätte gerne Volksvertreter, die ich persönlich kenne – und die mich. Der Autor —Der Autor arbeitet als Hauptstadt-Korrespondent der RHEINPFALZ in Berlin. Er verbringt zwei Wochen in Bad Dürkheim, um weit entfernt vom Berliner Politikbetrieb mit jenen Menschen ins Gespräch zu kommen, für die er schreibt.

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