Kultur Wer fühlt schon gern allein: Wie uns das Coronavirus das Gemeinschaftserlebnis raubt

Blick in den Zuschauerraum der Bayerischen Staatsoper in München. In Bayern bleiben die Theater wegen der Corona-Epidemie vorers
Blick in den Zuschauerraum der Bayerischen Staatsoper in München. In Bayern bleiben die Theater wegen der Corona-Epidemie vorerst geschlossen.

Die Leipziger Buchmesse abgesagt, die Architekturbiennale in Venedig verschoben, statt ins Kino zu gehen, schaut man Netflix, Konzerte in der Region werden annulliert, in Bayern, in Ludwigshafen, Berlin, Stuttgart und Karlsruhe schließen die Theater. Alles aus Angst vor dem Virus. Und plötzlich geht uns auf, wie wichtig die Gemeinschaft ist vor Ort, nicht der Freundeskreis in den sozialen Medien. Woher kommt dieses archaische Gefühl?

Leicht zynisch betrachtet ist der Hang, im Jahr des Coronavirus zu Hause zu bleiben, ein Segen. Zumindest, wenn man Blaise Pascal (1623 bis 1662) glaubt, dem Physiker, Mathematiker und christlichen Philosophen. Das ganze Unglück der Menschen rühre allein daher, meinte der, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen. Anderseits spürt man jetzt erst recht, wie einem das fehlt, Dinge gemeinsam zu erleben. Wie traurig das ist, wenn wie in Bayern, die Theater nicht spielen. Die Leipziger Buchmesse abgesagt wird. Die Architektur-Biennale in Venedig verschoben ist auf August – vorerst. Statt im Museum schaut man Kunst jetzt – alte Schule – vorsichtshalber oder gezwungenermaßen im Katalog an. Hört, Kopfhörer auf, Konzerte auf CD. Liest das Buch selber, aus Scheu, zu einer Lesung zu gehen. Oder, mein Gott ja, nutzt eben die digitalen Varianten. Das Gleiche wie ein großes Gemeinschaftserlebnis ist das alles nicht, wie jetzt live zu erfahren ist.

Mitleiden mit Isolde

„Im Kino gewesen, geweint“, schrieb einst Franz Kafka in sein Tagebuch. Wer weiß, ob ihm das Gleiche bei einer Netflix-Serie passiert wäre. Schwer vorstellbar auch, dass wir in unseren elektronischen Blasen die gleiche Emphase entwickeln wie im Zuschauerraum. Der gleiche gespenstische Enthusiasmus entsteht, wenn wir uns Ohrstöpsel teilen, wie beim Gig von Slipknot bei Rock am Ring. Und stirbt man mit Isolde wirklich den gleichen schlimmen Liebestod, wenn ihre Stimme aus der Konserve kommt, anstatt dass sie mit bebenden Herzen auf der Opernbühne vor einem steht?

Jedes Konzert, ohnehin ein singuläres Ereignis und Kunstwerk, verbindet sich doch – Hand aufs Herz – retrospektiv mehr oder weniger mit dem ganzen Publikum zum Zeitpunkt seiner Aufführung. Wer nicht ganz stumpf ist, bleibt mit diesem unvermeidlich stimmungsmäßig vernetzt. Und wie anders fühlt es sich an, einen Kunstdruck in Händen zu halten, als im Pulk auszuharren im Louvre – vor der Mona Lisa um Restwürde bemüht. Und nicht nur der von Walter Benjamin beschworenen Aura wegen, die das Original allen Reproduktionen voraus hat.

Ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach Gemeinsamkeit

Vielmehr ist, dass da noch andere sind, die sich um ein Ereignis versammeln, tief verwurzelt in der Geschichte der Menschheit, ein archaischer Impuls, der uns anfeuert. Das heißt, jeder gemeinsame Museums-, Kino- und Theatergang ist ideell verbunden mit dem Sitzen des Stamms um das Feuer. Oder mit dem Aufsuchen der Agora in der griechischen Antike, dem zentralen Fest-, Versammlungs- und Marktplatz, auf dem sich die Stadtgesellschaft zu dionysischen Festen oder Gerichtsverhandlungen traf. Volksversammlungen fanden dort statt. Einmal im Jahr wurden Theaterfestspiele veranstaltet. Das Gemeinsame Da-Sein war damals so konstitutiv, dass Homer meinte, wo eine Agora fehle, herrsche Recht- und Gesetzlosigkeit. Und schließlich hängt auch, was wir Demokratie nennen, viel stärker davon ab, dass ein Publikum präsent ist vor Ort, als wir Jetzt-Menschen uns – im ortlosen Netz gefangen –, vorstellen können.

Kein Mensch kann für sich alleine existieren

Jürgen Habermas jedenfalls, Deutschlands weltberühmter Gegenwartsphilosoph, beschrieb in seiner 1962 erschienenen Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ literarische Salons oder das Theaterpublikum als Vorläufer erst der bürgerlichen, dann der demokratischen Gesellschaft heutigen Zuschnitts. Kann gut sein, dass deren Agora mittlerweile soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram sind. Aber auch Twitter-Sonnenkönig Donald Trump postet mit Vorliebe Videos, auf denen er bei Auftritten in der Menge badet. Und wenn es wirklich gilt, gehen die Menschen immer noch gemeinsam auf die Straße, um sich verbunden zu spüren. Etwa beim Gedenken an die Mord-Opfer von Hanau. Oder, wenn für Klimaschutz demonstriert wird. Kein Mensch kann ganz für sich alleine existieren. Kultur ist eine gemeinsame Aktion. Selbst das Virus lässt sich nur solidarisch bekämpfen. Fatal nur, dass man dabei nicht im wahrsten Wortsinn zusammenstehen sollte.

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