Kultur Vereine: Rettung in der Provinz-Hölle

Was es so alles gibt: der Vereinsbaum der westfälischen Gemeinde Siddinghausen.
Was es so alles gibt: der Vereinsbaum der westfälischen Gemeinde Siddinghausen.

Die Deutschen und ihre Vereine. Vom Kaninchenzucht- über den Schützen- und Karnevalsverein bis hin zu Geflügelzüchtern, Schweinefreunden, Aalanglern oder Zylinderträgern. Alles geht. Nichts bleibt außen vor. Doch wer nur Spott für die deutsche Vereinsmeierei übrig hat, der übersieht, welch wichtige gesellschaftliche Funktion die über 600.000 Vereine, die es in Deutschland gibt, übernehmen.

Zum Beispiel Niederkirchen, ganz am Rande des Landkreises Kaiserslautern. Umrahmt vom Landkreis Kusel und dem Donnersbergkreis. Die nicht nur im Volksmund sprichwörtliche Alte Welt ist näher als man denkt – und sich als 16-Jähriger eingestehen will. Kein Zuckerschlecken, hier aufzuwachsen. Die Klassenkameraden trafen sich in der Kaiserslauterer Altstadt zum Beispiel. Von dort aber ging nach 20 Uhr kein Bus mehr zurück. 25 Kilometer mit dem Taxi – unvorstellbar, da unbezahlbar.

Verein gegen Provinz-Depression

Die Verkehrssituation mag sich vielleicht verbessert haben, in Niederkirchen wie in Gersbach oder in Einöllen, um nur einige Pfälzer Dörfer zu nennen. Die Angebote für Jugendliche sind aber unwesentlich attraktiver geworden. Man ist irgendwie ein wenig aus dem prallen Leben herausgedrängt. Abgeschnitten. Und das gilt für die pfälzische Provinz wie für jede andere deutsche. Doch die Rettung lag so nahe. Und liegt da noch immer: Musikverein, Sportverein, Tennisverein, Angelsportverein. Zeitweise war man aktives Mitglied in bis zu vier örtlichen Vereinen, kein Nachmittag, später kein Abend ohne Singstunde, Musikstunde, Training, sei es Fußball-, Tischtennis- oder Volleyball. Geselligkeit wurde da immer großgeschrieben. So manche Verletzung stammte zur großen Verwunderung des Trainers nicht vom heißen Kampf auf dem Dorfsportplatz, sondern aus der dritten Halbzeit im Sportheim oder in irgendeinem Festzelt. Der Verein als Prophylaxe gegen spätpubertäre Provinz-Depressionen.

Klischees einer typischen Vereinssitzung

Natürlich wollte man später davon nichts mehr wissen. Wer in der Stadt studiert, verdrängt seine Vereinsvergangenheit auf dem platten Land. Macht sich lustig über die Vereinsmeierei, die einst doch Lebensmittelpunkt war. Wie hieß es doch nochmals in der SAT1-Serie „Hausmeister Krause“: „Alles für den Dackel, alles für den Club. Unser Leben für den Hund.“ Auch im Bonner Haus der Geschichte begegnet man zunächst einmal dem Spott über den typisch deutschen Vereinsfanatiker. Alle Klischees einer typischen Vereinssitzung werden bemüht, vom Hirschgeweih über die eichenholz-braune Tapete bis hin zum Schinkenbrot und der Pilstulpe. Eine Szene aus Loriots „Ödipussi“. Man diskutiert, mit vollem Ernst und vollem Mund, wie denn wohl die Begriffe „Frau“ und „Umwelt“ in den Karneval eingebracht werden könnten.

Der Verein als Spießbürgerhölle

Der Verein als Spießbürgerhölle also. In der DDR auch untersagt. Vereine wurden als Relikte aus dem bürgerlichen 19. Jahrhundert beargwöhnt. Sie galt es zu überwinden im Arbeiter- und Bauernstaat, der ja als Gesamtphänomen quasi so etwas wie eine Art absurder Über-Verein war. Allerdings hatte man an der Spitze der Partei die Rechnung ohne die eigene Unfähigkeit gemacht, mittels Planwirtschaft die Versorgung der Bevölkerung zu garantieren. Einzig die Gartenbauvereine durften weiterexistieren, wie man in der Bonner Schau nachvollziehen kann. Sie sollten die Menschen mit selbst angebautem Obst und Gemüse versorgen. Die Datsche wurde so zur Keimzelle des sozialistischen Überlebenswillens. Sicherte die Vitaminversorgung auch in jenem Land, um das die Banane einen so großen Bogen machte. Und die Kleingärtner im Staatsauftrag verweigerten sich der völligen Vereinnahmung durch die kommunistische Partei: „Freitag nach eins, macht jeder seins“, ist da auf einem Plakat zu lesen.

Vereinszugehörigkeit als Lebensaufgabe

Dass Vereinszugehörigkeit und Vereinsliebe eine sehr ernste Angelegenheit sein können, muss man wohl keinem FCK-Fan näher erklären. In der Bonner Ausstellung wird sie sogar zur todernsten. Ein Raum ist dem Fußballbundesligisten Schalke 04 gewidmet. Einem Verein, dessen Mitglieder sich untereinander Knappen oder Kumpel nennen. Das ist keine normale Anbindung an einen Club mehr, keine Fanleidenschaft. Es ist eine Lebensaufgabe. Babys werden im Schalketrikots in einer Kapelle in der Veltins-Arena getauft; verstorbene Mitglieder lassen sich auf einem Friedhof in Stadionform beerdigen. Mit der Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches 1900 gibt es in Deutschland den eingetragenen Verein, mit allen Rechten und Pflichten. Die ersten Vereine wurden aber schon viel früher gegründet, vor allem Schützen- und Karnevalsvereine. Letztere etwa in Köln, um den Militarismus und Drill der Preußen in eigenen Uniformen lächerlich zu machen. Und wer in Westfalen unterwegs ist, der stellt fest, dass das eigentliche Oberhaupt einer Gemeinde nicht der Bürgermeister, sondern der Schützenkönig ist. Häufiger als ins Schützenhaus gehen die Einwohner allenfalls noch in die Kirche, der Jahreskalender teilt sich in die Zeit vor und jene nach dem Schützenfest. Die ausgestellten Fotos und Karten, die Orden und Uniformen bestätigen noch jedes Klischee.

Gesellschaftliche und politische Ziele

Der Soziologe Max Weber stellte 1901 fest: „Der heutige Mensch ist ein Vereinsmensch.“ Das gilt im Deutschland des Jahres 2017 aber in noch viel stärkerem Maße. 600.000 Vereine gibt es in Deutschland, 44 Prozent der Deutschen sind Mitglied in mindestens einem. Die Anzahl der Vereine geht keineswegs zurück – 1995 lag sie noch bei 416.000. Allerdings gab es eine Art Strukturwandel. Geselligkeit ist nicht mehr das oberste Gebot. Gerade Vereinsneugründungen im urbanen Umfeld verfolgen gesellschaftliche und politische Ziele: Flüchtlingshilfe, Naturschutz, Kinderschutz. Auch die Sorge treibt die Menschen an.

Ausschnitte aus Weihnachtsansprachen

Die Schau widmet den deutschlandweit 60.000 Ehrenamtlern, die in den 900 Tafeln organisiert sind, einen eigenen Raum. Wobei gerade an der Arbeit der Tafeln auch Kritik geübt wird. Der Vorwurf: Sie dienten der staatlichen Grundversorgung als Alibi, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Das sahen und sehen die deutschen Bundespräsidenten anders. Auf einem Bildschirm sind Ausschnitte aus Weihnachtsansprachen zu sehen: von Karl Carstens, Johannes Rau, Roman Herzog, Horst Köhler, Christian Wulff und Joachim Gauck. Eine Passage wiederholt sich gebetsmühlenartig: der Dank an die vielen Vereinsmitglieder, die sich ehrenamtlich für die Gesellschaft engagieren. In kleinen westpfälzischen Dörfern übernimmt dieses Lob meist der Ortsbürgermeister. Natürlich im Ehrenamt. Und im Nebenberuf oftmals auch noch Vereinsvorsitzender. Teil eines Vereinsnetzwerks, das verhindert, dass die Provinz zur Hölle wird.

Die Ausstellung

„Mein Verein“, Ausstellung im Haus der Geschichte Bonn. Bis 4. März 2018, dienstags bis freitags 9-19 Uhr, samstags und sonntags 10-18 Uhr.

Der Deutsche ist weltweit der Vereinsmeier schlechthin: Plakat der Bonner Ausstellung.
Der Deutsche ist weltweit der Vereinsmeier schlechthin: Plakat der Bonner Ausstellung.
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