Kultur Sakrale Sinnlichkeit

„Erbarmen“: Szene aus dem ersten Akt mit Gerald Finley und dem Chor.
»Erbarmen«: Szene aus dem ersten Akt mit Gerald Finley und dem Chor.

Musikalisch ist der „Parsifal“ mit Simon Rattle bei den Osterfestspielen der Berliner Philharmoniker im Festspielhaus Baden-Baden eine Wagner-Erfahrung der besonderen Art. Er lässt das Bühnenweihfestspiel teilweise ganz neu hören. Die Inszenierung von Dieter Dorn ist dagegen eine Enttäuschung.

2004 blickte die Wagner-Welt nach Bayreuth, wo Christof Schlingensief den „Parsifal“ in Szene setzte und ein Skandal vorprogrammiert schien. So schlimm wurde es dann doch nicht. Wer das Stück in jenem Sommer aber in einer der Sache weit angemesseneren Weise erleben wollte, musste nach Baden-Baden kommen, wo Nikolaus Lehnhoffs einprägsame und durchdachte Inszenierung gespielt wurde. Kent Nagano am Pult war mit Pierre Boulez ebenmäßig, ansonsten war Baden-Baden dem Grünen Hügel deutlich überlegen. Die Erwartungen an den zweiten szenischen „Parsifal“ im Festspielhaus zu den aktuellen Osterfestspielen der Berliner Philharmoniker mussten also groß sein. Mit Dieter Dorn, der auch schon in Bayreuth inszenierte, wurde eine viel versprechende Regie-Legende verpflichtet. Doch der langjährige Münchener Schauspielchef lieferte eine kaum mehr als routinierte Regiearbeit ab, die beim Premierenpublikum Unmutsreaktionen hervorrief. Und das nicht verstörender oder provokativer Deutungen wegen, sondern aufgrund der szenischen Leere im doppelten Sinn des Wortes. Wir wissen nun klar, dass sich Amfortas’ Wunde im Unterleib befindet, erfahren, dass auch Gurnemanz erotische Ambitionen auf Kundry hat und die Gralsritter ein etwas undisziplinierter Haufen sind. Da Kundry am Anfang und Ende allein auf der Bühne ist, wäre eine Deutung möglich, dass alles nur in ihrer Vorstellung spielt. Ansonsten folgt Dorn dem Textbuch, was an sich völlig legitim ist. In der Ausstattung von Bühnenbildnerin Magdalena Gut und Kostümbildnerin Monika Staykova geschieht dies aber ohne große theatralische Wirkung. Einzig für den Speerwurf am Ende des zweiten Aktes gibt es eine geschickte Lösung. Im dritten Akt erscheint Parsifal als schwarzer Ritter in schwerer Rüstung. Dies und das Kostüm der Leiche des Titurel sind die einzigen Hinweise auf die Handlungszeit. Im Übrigen kann die Geschichte zu jeder Zeit und in jedem Kulturkreis spielen. Das sollte aber weniger unverbindlich als hier anmuten. Es müssen keine Bildorgien wie bei Schlingensief oder Stefan Herheim in Bayreuth sein, aber mehr Bühnenzauber und Bedeutung wären doch zu wünschen gewesen. Der „Parsifal“ ist als einziges Musikdrama Wagners konkret für Bayreuth geschrieben und klingt nur dort so, wie Wagner es sich gedacht hat. Aber mit seiner Einstudierung nutzt Simon Rattle die akustischen Möglichkeiten des Festspielhauses so kongenial aus, dass ein kaum weniger authentisches „Parsifal“-Erlebnis geboten wird. Selten wirken die räumlich geschichteten Chorgruppen so effektiv. Die Musik scheint sich wirklich nach oben in himmlische Sphären zu begeben. Vor allem aber erlaubt die immense dynamische Bandbreite von Rattles Wiedergabe im Einklang mit der Akustik des Raumes ein völlig unforciertes Singen. So leise kann zum Beispiel der Chor ganz selten agieren. Der von Walter Zeh einstudierte Philharmonia Chor Wien steht dem der Bayreuther Festspiel kaum nach – und das ist gerade bei diesem Stück eine grandiose Leistung. Mit Ausnahme von Stephen Gould, der in üblicher Heldentenor-Diktion einen souveränen und kernigen Parsifal singt, und Evgeny Nikitin als sehr markant gezeichnetem Klingsor sind eher leichte und bewegliche Stimmen zu hören. Die setzen nicht auf „Schrei und Pedal“ (Ernst Bloch), sondern auf deutschen Belcanto, differenzierte Tongebung und Stimmfärbung sowie kantable Linien. Gerald Finley bringt auf diese Weise das Leiden des Amfortas auf ein menschliches und deshalb bewegendes Maß und singt mit bestechender Gesangskultur. Franz-Josef Selig braucht als Gurnemanz weder wabernde Basstöne noch schwerfällige Deklamation, um als Quasi-Erzähler der Gralswelt zu wirken. Er singt beweglich und fein nuanciert, so dass man ihm gebannt und gerne zuhört. Ruxandra Donose ist als Barock-Sängerin renommiert. Als Kundry singt sie denn auch sehr gebunden, klar im Klang und in feinen Tönen. Keine Ausfälle gibt es bei den hochkarätig besetzten kleineren Rollen. Simon Rattle steht für einen „Parsifal“der eigenen Art, die fern der deutschen (und englischen) Wagner-Tradition die Partitur neu liest. Nicht nur sind hier sonst kaum zu hörende Nebenstimmen wahrzunehmen. Sir Simon lässt sich frei, absolut unpathetisch und unideologisch auf die Musik ein. Ohne all den Ballast der Vergangenheit kommt die Ausdruckswelt der Musik so eindringlich wie selten zur Geltung, zumal die instrumentale Kunst der Berliner Philharmoniker und ihre dynamische Palette sensationell sind. Rattle nutzt das optimal aus. Auch seine Gestaltung der musikalischen Zeit ist von überragender Vielfalt und Flexibilität. Alles hat innere Bewegung und Leidenschaft, auch die quasi-sakralen Partien sind von einer sinnlichen Ekstase. Info Vorstellungen sind noch an Karfreitag, 30. März, und Ostermontag, 2. April, 16 Uhr. Karten und Infos auch zum weiteren Programm der Osterfestspiele unter www.osterfestspiele.de, Telefon 07221/ 3013-101.

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