Literatur Macht nicht die Schotten dicht! Warum Verlage zu ihren Autoren stehen sollten

Sind Werk und Autor eins? Rammstein-Sänger Till Lindemann.
Sind Werk und Autor eins? Rammstein-Sänger Till Lindemann.

Der Verlag von Rammstein-Frontmann Till Lindemann hat nach Bekanntwerden der Vorwürfe gegen ihn, seinen Gedichtband aus dem Programm genommen. Bei Uwe Tellkamp und Monika Maron kam es wegen politischer Aussagen zu Distanzierungen und im Fall von Maron sogar zu einem Verlagswechsel. Richtig ist die Absetzbewegung nicht in jedem Fall. Plädoyer für einen genaueren Blick.

Es ist der Stoff für einen Hollywoodfilm: Der gefeierte Sänger einer Band ergeht sich nach seinen Konzerten in Sex- und Drogenorgien, hält diese in einem Porno fest und stürzt Jahre später wie der einst leuchtende Luzifer über seine Eskapaden. Dass es bei den Rauschnächten von Rammstein-Frontmann Till Lindemanns zu gewaltsamen Übergriffen gekommen sein soll, ist gemäß der Unschuldsvermutung Konjunktiv. Die Gerichte aber erwartet wohl eine anspruchsvolle Aufgabe.

Zugegeben, auch ich als Kritiker habe im Jahr 2020, als Lindemanns vierter Band „100 Gedichte“ erschien, nicht für möglich gehalten, dass die darin beschriebenen „Praktiken“ als poetisch verpackte Dokumentation von unfassbaren Begebenheiten sein könnten. Es geht dabei vor allem um Verse wie diese: „Schlaf gerne mit dir wenn du träumst / Weil du alles hier versäumst / Und genau so soll das sein (so soll das sein so macht das Spaß) / Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas) / Kannst dich gar nicht mehr bewegen / Und du schläfst / Es ist ein Segen“; „Die Eier rollen aus dem Nest / Halt mich an deinen Haaren fest / Nie wieder meine Wollust stillen / Willst wieder es mit Widerwillen“. Gelesen hatte ich jene Stellen daher mit gesellschaftskritischem Impetus, ganz im Sinne einer ironischen Rollenlyrik. Alles andere relativistisch vorgekommen wäre.

Aber hätte es nicht zumindest das Lektorat besser wissen müssen? Hätte man nicht im engen Kontakt mit dem Autor erahnen können, was sich hinter diesen Zeilen verbirgt? Sich als Verlag (Kiepenheuer & Witsch), wie jetzt in Zusammenhang mit den Vorwürfen an Lindemann geschehen, zwei Jahre danach „zu distanzieren“, erweist sich mindestens als naiv. Nun gilt jedenfalls der Codex: Macht die Schotten dicht! Warum? Wahrscheinlich um sich vor einer Meute auf den sozialen Netzwerken zu schützen, ja um in einem explosiven Stimmungsgemisch aus Gender, Identität und Gewalt nur jedweden Anschein politischer Inkorrektheit zu vermeiden. Dabei sollte man von Verlagen, also den Kraftwerken von Geist, Wort und Argument, doch mehr Mündigkeit und Haltung, mehr Mut zum auch selbstkritischen Diskurs erwarten.

Indessen steht die Heimstätte von Spitzenautoren der Popliteratur wie Sibylle Berg und Christian Kracht mit ihrer rasche Exit-Strategie nicht allein da. Denn derlei Vorkommnisse häufen sich in der vergangenen Dekade. Nur einige Beispiele: Auf national-konservative Äußerungen Uwe Tellkamps zur Flüchtlingspolitik reagierte Suhrkamp 2018 mit einer „Distanzierung“. Auf die Dresdner Rede der kürzlich verstorbenen Sibylle Lewitscharoff reagierte Suhrkamp 2014 – mit einer „Distanzierung“. Auf die Vorwürfe gegen Simon Strauß, sein Debüt „Sieben Nächte“ (2017) sei mit rechtem Gedankengut angereichert, reagierte seinerzeit „Blumenbar“ mit auffälliger Zurückhaltung. Als den allerdings in vielerlei Hinsicht markanteste Vorfall muss man das Zerwürfnis zwischen S. Fischer und Monika Maron ansehen. Sie hatte sich mehrfach islamkritisch zu Wort gemeldet und unter anderem Pegida nicht als „Krankheit“, sondern als „Symptom“ definiert und einen Essayband in der Edition Buchhaus Loschwitz veröffentlicht. Die Reaktion des Traditionshauses fiel hart aus: Beendigung der Zusammenarbeit, erneut ohne jeden Hauch einer intellektuellen Beschäftigung mit dem Gegenstand.

Muss, wer falsch denkt, auch falsch schreiben?

Diese Kultur der einen Richtung, des Schwarz-weiß, der Kappung und des Bruchs hat veritable Folgen, impliziert sie doch, Werk und Autor seien nicht zu trennen. Wer falsch denkt, muss falsch schreiben. Wer sich unflätig, tabubrechend oder gar verbrecherisch verhält, der wird auch nur Unflätiges, Tabubrechendes oder gar Verbrecherisches veröffentlichen. Gewiss muss man zumindest bei Lindemann einräumen, dass die schon die Möglichkeit einer Nähe zwischen Text und Verhalten erschreckend anmutet. Indem er etwa in seinem Porno einen seiner Lyrikbände mit seinem Penis durchbohrt, legt er es zielbewusst darauf an, seine Persönlichkeit mit seinem Schaffen ineins zu setzen. Für viele andere Autor:innen trifft dies glücklicherweise nicht zu. Oft sind ihre Werke klüger und vieldeutiger als ihr Denken, ihre Texte leben mit der Zeit und lassen, wenn sie gut sind, viele Ein- und Austrittstüren erkennen.

Insbesondere bei Monika Maron zeichnet sich dieses Paradox auf verblüffende Weise ab und belegt eindrücklich, warum die Differenz aus Sein und Produkt so wichtig ist. Hierzu lohnt ein genauer und für die Debatte exemplarischer Blick auf den letzten bei S. Fischer erschienenen Roman „Munin oder Chaos im Kopf“ (2018). Hierin kommt es in einer ruhigen Stadtstraße zu einem Kleinbürgerkrieg: Wegen der Ruhestörung einer Amateursängerin rotten sich die Anwohner zu Protestaktionen zusammen. Sie bemühen sich um die Wiederherstellung der alten Ordnung, derweil versucht sich die Protagonistin dieses Buchs aus den Geschehnissen herauszuhalten. Während sie an einer regionalen Chronik über den Dreißigjährigen Krieg sitzt, dringen von außen vor allem Nachrichten über globale Verwerfungen in ihre geschützten vier Wände ein, etwa über die Finanzkrise, den „Wahn“ um das „Genderzeug“ sowie die Ausmaße der Flüchtlingskrise, gegenüber der auch Marons Figur zunächst eine konservative Haltung einnimmt.

Und jetzt kommt das Aber. Eine alternative Sichtweise zur reaktionär angelegten Ich-Erzählerin bietet ein sprechender, zauberhafter Vogel, die titelgebende Krähe Munin, die sie des Nachts aufsucht. Sie verwickelt die Hauptfigur in religionsphilosophische Dialoge. „Wir wissen“, sagt sie mitunter, „dass sogar die Maus und der Mensch zu neunundneunzig Prozent genetisch übereinstimmen“. Daraus folgt: „Besonders für die Gottgläubigen muss das ein Schock sein. Denn wenn der Mensch Gottes Ebenbild ist, dann müsste ja auch Gott zu neunundneunzig Prozent eine Maus sein oder ein Affe oder sogar ein Biber. Dann ist alles Gott.“ Maron bricht hiermit die gängigen Grenzziehungen zugunsten eines pantheistischen Weltbildes auf. Wo alles Gott ist, müsste ebenso jeder und jeder über dieselben Rechte verfügen. Statt das Dasein binär in Mensch und Tier, Heimatstämmige und Migranten, Mann und Frau aufzuspalten, wird die Idee einer Gemeinschaft offenkundig.

Nun mögen manche behaupten, man würde zu viel in den Text einer vermeintlich rechtsnationalen Schwurblerin hineininterpretieren. Aber spielt dieses Argument überhaupt eine Rolle? Darf ein Werk nicht offen für vielerlei Deutungswege sein? Und wäre es dann nicht redlich, es nicht auf den Kopf ihrer Schöpferin zu verengen? Allen voran diese Fragen machen deutlich, dass die zumeist eher boulevardesk geführten Debatten letztlich auch einer literaturwissenschaftlichen Flankierung bedürfen. Ihre beharrliche Trennung zwischen Werk und Autor, gerade infolge positivistischer Vereinnahmungen der Autoren im Nationalsozialismus, trägt dazu bei, auch die Texte an sich abzuklopfen und – anders als im Fall Lindemann, der seine möglichen Gewaltprozesse eins zu eins aufgeschrieben haben könnte – dort vielleicht sogar andere Facetten zu entdecken.

Darüber sollten sich eben auch Verlage Gedanken machen. Manchmal kommt das auf erfreuliche Weise vor. So entschied sich der Hanser Verlag bewusst zum Druck von Woody Allens Autobiografie. Zwar hatte ihn ein Gericht von den Vorwürfen des Kindesmissbrauchs freigesprochen, trotzdem stand die Kolportage lange im Raum, weswegen sich zuvor die Hachette Book Group gegen eine Veröffentlichung positionierte. Das Buch trotzdem in ein deutschsprachiges Programm zu nehmen, beweist daher Rückgrat. Es belegt die ureigentliche Aufgabe von Verlagen, Auseinandersetzungen, das Ringen um die besten Argumente und natürlich auch die richtigen Werte zu befördern. Ganz der Devise nach: Erst im Streit offenbart sich das, wofür Buchkultur einstehen sollt, nämlich für Demokratie und die Pluralität von (auch bisweilen unliebsamen) Werken und Meinungen.

Zum Autor

Björn Hayer, PD Dr. phil., lehrt an der Universität Koblenz-Landau Literatur- und Kulturwissenschaft. Darüber hinaus wirkt er als Literatur-, Theater- und Filmkritiker sowie Essayist für verschiedene Zeitungen, darunter die RHEINPFALZ, Magazine und Rundfunksender.

Zerwürfnis wegen islamkritischer Worte: Monika Maron ist nicht länger Autorin des Verlags S. Fischer.
Zerwürfnis wegen islamkritischer Worte: Monika Maron ist nicht länger Autorin des Verlags S. Fischer.
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