Kultur Euphorie am „Lido di Venezia“

Zum ersten Mal hat eine Netflix-Produktion den Hauptpreis beim Filmfestival von Venedig gewonnen: Szene aus „Roma“ von Oscarprei
Zum ersten Mal hat eine Netflix-Produktion den Hauptpreis beim Filmfestival von Venedig gewonnen: Szene aus »Roma« von Oscarpreisträger Alfonso Cuarón .

Derart einhelligen Jubel wie zum Abschluss der 75. Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica gibt es nicht oft bei Preisverleihungen auf Filmfestivals. Denn nur selten entspricht eine Jury mit ihren Entscheidungen so deutlich den Erwartungen.

Das von Regisseur Guillermo del Toro (Oscar für „The Shape of Water “) geleitete Juroren-Team mit zum Beispiel den Schauspielern Trine Dyrholm, Naomi Watts und Christoph Waltz hat in hohem Maß dem intelligenten Erzählkino seinen Tribut gezollt. Die mit bezwingend schönen und aussagestarken Schwarz-Weiß-Bildern in die frühen 1970er Jahre in Mexiko blickende Familienchronik „Roma“ von Regisseur Alfonso Cuarón hat den Hauptpreis, den Goldenen Löwen, verdient. „Roma“ fesselt mit einer emotional aufgeladenen Geschichte, in deren Zentrum ein schlecht bezahltes Kindermädchen steht, das den Sprösslingen einer gehobenen Mittelstandsfamilie Liebe im Übermaß schenkt. Die scheinbar kleine Geschichte schafft es (weil es in vielsagenden Bildern und Dialogen gelingt), gesellschaftliche Vorgänge in Privatem zu spiegeln. Zugespitzt wird das in jener Frage, die ein Großteil der 21 Wettbewerbsfilme aus aller Welt gestellt hat: Was macht den Mensch zum Menschen? Cuarón, der auch die Kamera geführt hat, denkt so darüber nach, dass man beseligt aus dem Kino geht. Produziert wurde der Film vom Streamingdienst Netflix. Deshalb hatte ihn das Festival von Cannes im Mai abgelehnt. Unternehmen wie Netflix haben nämlich bisher darauf gepocht, Spielfilme allein für online herauszubringen. Diese Haltung wurde jetzt modifiziert: Während des Festivals von Venedig kam die Meldung, Filme wie „Roma“ und einige andere werden in ausgewählten Kinos zu sehen sein. Auf dem Lido di Venezia, jener der Stadt vorgelagerten Insel, auf der das Festival residiert, brach Euphorie aus. Die Mostra wurde als Friedensrichterin gefeiert. Bei allem Grund zu Freude ist jedoch Skepsis angesagt. Denn Netflix und Amazon habe während des Festivals eine „Produktionsallianz“ beschlossen. Zu den Netflix-Filmen, die in einige Kinos kommen dürften, gehört auch der von den Coen-Brüdern realisierte Episoden-Reigen „Die Ballade des Buster Scruggs“. Die mal komische, oft sentimentale, gelegentlich sogar philosophisch angehauchte Demontage von Wild-West-Klischees in sechs nicht miteinander verwobenen Kurzgeschichten wurde von der Jury mit dem Preis für das beste Drehbuch bedacht. Der Silberne Löwe für die beste Regie ging ebenfalls an einen Western, an den Franzosen Jacques Audiard für „Die Gebrüder Sisters“, finanziert von klassischen Filmproduzenten aus Frankreich, Belgien, Rumänien und Spanien. Die pointierte Mär von einem Profikiller-Paar (John C. Reilly und Joaquin Phoenix) fesselt mit einer tatsächlich brillant inszenierten Story voller Spannung und Geist. Auch hier begeistert, wie höchst unterhaltsam gewichtige Fragen zum Alltag in den heutigen bürgerlichen Gesellschaften beleuchtet werden. Den Großen Preis der Jury bekam der Grieche Yorgos Lanthimos. In seiner von Geldgebern aus Großbritannien, Irland und den USA finanzierten Komödie „Die Favoritin“ taucht er mit spitzzüngigem Witz ein in das Leben am Hof der letzten Stuart, der englischen Königin Anne (1665 – 1714). Das ist so komisch wie bitter, denn der Film reflektiert hellsichtig das Unwesen mancher Politiker in der gegenwärtigen westlichen Welt, offenbart, dabei durchweg ungemein unterhaltsam, wie demokratische Strukturen durch Macht- und Profitgier gefährdet sind. Die Britin Olivia Colman wurde zudem für ihre in der Tat grandiose Interpretation Annes, einer Frau mit vielen Gesichtern, als beste Schauspielerin ausgezeichnet. Was völlig richtig ist, wie auch die Ehrung des US-Amerikaners Willem Dafoe als bester Schauspieler für seine feine Interpretation des Malers Vincent Van Gogh in dem von Julian Schnabel inszenierten Drama „Am Tor zur Ewigkeit“: ein tiefsinniges und sehr berührendes Künstlerporträt. Beifall gab es auch dafür, dass der junge Aborigine Baykali Ganambarr zum bester Nachwuchsdarsteller gekürt wurde. Er spielt den Begleiter einer jungen Frau auf einem Rachefeldzug im Australien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in „Die Nachtigall“. Die australische Regisseurin Jennifer Kent bekam zudem die Auszeichnung mit dem Spezialpreis der Jury. Das wurde verhaltener aufgenommen. Denn der Film um den Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter und von Menschen unterschiedlichster Herkunft verdeckt seinen Anspruch mit einem Zuviel an drastischen Gewaltdarstellungen. Es ist möglich, diese Jury-Entscheidung als ein politisches Statement zu deuten. Denn Jennifer Kent war als einzige Frau mit einem von ihr inszenierten Spielfilm in den Wettbewerb eingeladen worden. Alberto Barbera, der künstlerische Leiter des Festivals, hatte noch zu dessen Beginn in stoischer Macho-Pose darauf beharrt, dass er eine Quotenregelung zur Förderung von Filmarbeiterinnen auf keinen Fall zustimmen wolle. Schon wenige Tage nach Start des Festivals gab er seine Haltung auf und teilte mit, dass sich die Verantwortlichen von Venedig der „50/50 2020“-Initiative anschließen. Die, initiiert Anfang dieses Jahres in Frankreich, will erreichen, dass bis zum Jahr 2020 eine ausgewogene Gender-Balance in der Filmindustrie erreicht wird.

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