Frankenthal/Neustadt Dreifachmord aus dem Jahr 1944 beschäftigt Pfälzer Gerichte

Robert Einstein und seine Frau Nina Einstein Mazzetti. Sie wurde 1944 ermordert. Er brachte sich ein Jahr später um.
Robert Einstein und seine Frau Nina Einstein Mazzetti. Sie wurde 1944 ermordert. Er brachte sich ein Jahr später um.

Das Urteil des Neustadter Verwaltungsgerichts ist spektakulär. Die Staatsanwaltschaft Frankenthal muss dem britischen Journalisten Thomas Harding Einsicht in die 2014 geschlossenen Ermittlungsakten gegen einen Pfälzer Ex-Hauptmann der Wehrmacht gewähren. Sein Regiment soll 1944 in Italien die Familie von Robert Einstein ermordet haben.

Az. 5 K 75/23.NW, ein Aktenzeichen, es geht um den Fall Thomas Harding, britischer Autor und Journalist, gegen das Land Rheinland-Pfalz, vertreten durch den Leitenden Oberstaatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Frankenthal – „wegen Presserechts“.

Es geht um neun Bände, 20 Leitzordner und weitere Sonderbeiträge. Ermittlungsakten der Pfälzer Staatsanwaltschaft zu einem 80 Jahre zurückliegenden Dreifachmord in Italien, die Thomas Harding jetzt nach dem Urteil des Verwaltungsgerichts Neustadt doch einsehen darf – ausnahmsweise, wie das Gericht feststellt. Die Frankenthaler müssen das Material – in Kopie selbstverständlich – herausgeben. Und das, obwohl die Ermittlungen gegen einen mutmaßlich hauptverantwortlichen Ex-Hauptmann des II. Bataillons/104. Panzergrenadier-Regiment, der damals im Zuständigkeitsbereich der Pfälzer Gerichte lebte, zehn Jahre zurückliegen und keine Anklage erhoben wurde. 2014 wurden die Ermittlungen mangels Anfangsverdachts eingestellt.

„Weg weisend“, vielleicht sogar „ein Durchbruch“

Der Mann selbst litt zu dem Zeitpunkt an fortschreitender Demenz. „Immens wichtig für den gesellschaftlichen Diskurs über die Medienfreiheit“, nennt jetzt die Landesvorsitzende des rheinland-pfälzischen Ablegers des Deutschen Journalistenverbands, Andrea Wohlfart, den geschichtsbewussten Entscheid der 5. Kammer darüber, dass der Fall qua Urteil Akten-basiert aufgearbeitet werden kann. Und: „Weg weisend“ für die weitgehende Auslegung der im Grundgesetz festgehaltenen Pressefreiheit (Artikel fünf) und des im Paragrafen 12a Landesmediengesetz paraphierten Auskunftsrechts. Von einem „möglichen Durchbruch“ sogar spricht der Berliner Christoph Partsch, der zu den Koryphäen auf dem Gebiet Medienrecht und Informationsfreiheit zählt. Der Anwalt von Thomas Harding, der als Journalist des „Guardian“ und Autor viel gelobter historischer „narrative fiction“ selbst auch nicht irgendwer ist.

Thomas Harding
Thomas Harding

Hardings Recherche „Hanns und Rudolf“ (2013) über seinen jüdischen Großonkel Hanns Alexander etwa ist für wichtige Preise nominiert gewesen. 1936 aus Deutschland geflohen, hat Alexander als britischer Offizier nach dem Zweiten Weltkrieg Rudolf Höß, den grausamen Kommandanten des KZs Auschwitz, auf einem Bauernhof in Norddeutschland aufgespürt. Von ähnlicher historischer Dimension dürfte das neue Buch des 55-jährigen Briten sein, für das er, so wie es aussieht, bald die Frankenthaler Akten studieren darf. So betont auch der Neustadter Entscheid das „herausragende Gewicht des vom Kläger in Anspruch genommenen öffentlichen Interesses“ und die Bedeutung der „Aufarbeitung der NS-Geschichte im Allgemeinen“.

Die Nichten mussten bei der Hinrichtung zusehen

Aktenzeichen 5 K 75/23.NW hat eine hohe medienrechtliche Relevanz. Der vorhin schon zitierte Medienanwalt Partsch macht sogar eine Chronologie einer demokratischen Transparenzverpflichtung auf, die das jetzige Urteil auf die US-amerikanischen Verfassung 1787 und das Hambacher Fest zurückführt. Das Verwaltungsgericht beruft sich auf Artikel zehn der Europäischen Menschenrechtskonvention. Im Kern allerdings geht es um ein abscheuliches Verbrechen.

Darum, dass am 3. August 1944 deutsche Soldaten auf dem Landgut Tenuta dell Focardo in Rignano sull’Arno bei Florenz die Familie von Albert Einsteins Cousin Robert erschossen haben: Cesarina – „Nina“ –, die Ehefrau. Und die Töchter Luce und Cici, 18 und 27 Jahre alt. Sie seien „Spione“, hieß es auf einem Papierfetzen, den Robert Einstein hinterher fand – und „Juden“. Es ist die Zusammenfassung eines kurzen, furchtbaren Prozesses.

Nina, geborene Mazzetti, war die Tochter eines protestantischen Pfarrers. Robert Einstein hatte nicht geglaubt, dass ihr die auf dem Rückzug im Arnotal marodierenden Deutschen etwas antun könnten – und sich in Erwartung der herannahenden Briten allein unweit bei Partisanen versteckt gehalten, als die Tat passierte. Seine Nichten dagegen sind gezwungen worden, bei der Hinrichtung zuzusehen. Damals wurden sie in einen Schuppen gesperrt. Dann steckten die Soldaten das Haus in Brand.

Am 12. Juli 1945, es war sein 32. Hochzeitstag, setzte Robert Einstein seinem Leben ein Ende. Das Verbrechen, das ihn umgebracht hat, wurde, trotzdem es durch Zeugenaussagen dokumentiert war, nie aufgeklärt. Lorenza Mazzetti, eine der beiden Nichten, die bei der Hinrichtung zusehen mussten, hat 2000 den Kinofilm „il cielo cade“ (Der Himmel fällt) über ihre Geschichte gedreht, mit Isabella Rossellini. Italienische und deutsche Behörden ermittelten. In Deutschland kam der Prozess durch die Recherchen in Fahrt, die ein italienische Historiker 2005 der Ludwigsburger „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ übergeben hatte. Von dort gelangten die Unterlagen nach Frankenthal. Das Landeskriminalamt Baden-Württemberg startete zudem am 23. Februar 2011 eine Fahndungsaktion mit einem Beitrag in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“, bei der auch der Leitende Staatsanwalt aus der Pfalz auftrat. Und bei der nichts herauskam. In Frankenthal wurde nur ermittelt, dass die Verbrechen wahrscheinlich im „Zuge einer Aktion der Fallschirm-Sturmgeschütz-Brigade“ stattgefunden hätten. Zu wissen, wie das herauskam und warum die Spur nicht weiter verfolgt wurde, ist einer der Gründe, weshalb sich Thomas Harding so für die Akten interessiert, die man ihm partout nicht zur Verfügung stellen wollte.

Jetzt ist man in Zweibrücken am Zug

Neben dem zu großen Aufwand personenbezogene Daten zu schwärzen, hatte man sich dort im Übrigen auf das persönliche Interesse der ehemaligen Wehrmachtssoldaten daran berufen, nicht als solche benannt und identifiziert zu werden. „Dass (noch lebende) ehemalige Verdächtige in der Öffentlichkeit und der Yellow Press als Kriegsverbrecher gebrandmarkt bzw. ihre Verwandten von der Weltpresse in Sippenhaft genommen würden“, befürchtete die Staatsanwaltschaft. „Recherchen in öffentlich zugänglichen Quellen“ belegten, „dass auch bei Männern mit einer Alterserwartung von 110 und mehr Jahren gerechnet werden müsse“, hatte es zur Begründung des ersten, ablehnenden Bescheids an Harding geheißen. Von einer möglichen „Verfälschung des Lebensbilds“ der in den Akten verzeichneten Soldaten etwa des II. Bataillons/104. Panzergrenadier-Regiments, die in den Akten genannt werden, war die Rede in Frankenthal. Einschätzungen, denen das Neustadter Verwaltungsgericht jetzt widersprach.

Gegenüber der „Frage des Vorgehens der Strafverfolgungsbehörden bei der Aufklärung von Kriegsverbrechen der Wehrmacht“ habe „das persönliche Interesse ehemaliger Soldaten daran, als solche benannt bzw. identifiziert werden zu dürfen, zurückzutreten.“ Jetzt liegt es an der Generalstaatsanwaltschaft Zweibrücken in Zusammenarbeit mit der Frankenthaler Behörde, ob sie vor dem Oberverwaltungsgericht in Koblenz dagegen klagen will.

Wie sein Anwalt am Telefon sagt, soll Thomas Hardings Buch nächstes Jahr erscheinen.

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