Kultur Die Geschichte als Sohn

Abweichung Wagnerianer: Ijoma Mangold.
Abweichung Wagnerianer: Ijoma Mangold.

Ijoma Mangold, als „Zeit“-Literaturchef einer der Zentralfiguren des deutschsprachigen Betriebs, hatte schon als Kind eine sehr dünne soziale Haut. Eine große Schambegabung ist da im Heidelberger Stadtteil Dossenheim zum Großkritiker herangewachsen. „Das deutsche Krokodil. Meine Geschichte“, heißt ein Buch von Mangold, in dem er davon erzählt. Eine frühe Autobiografie, die zwischen Fakten und Essay, Erzählkunst und Mentalitätsgeschichte oszilliert. Das literarische Sachbuch ist ein Bestseller. Und zu Recht.

Geboren am 2. März 1971. Ijoma Mangold ist schon sehr viel peinlich von Anfang an. Die unrepräsentative Dreizimmerwohnung, der angeranzte Teppich darin, die scheelen Blicke am Bankschalter, die die Klammheit der Mangoldschen Finanzverhältnisse kommentieren. Vor allem die Mutter – oft. Ihre Marimekko-Kleider, das hennarot gefärbte Haar. Ihre leise Exzentrik. Ihre Arbeit als Kinder- und Jugendlichen-psychotherapeutin. Das unvorhandene Über-Ich. Was sollen die Leute denken? Der Mutter ist das egal. Ihm nicht. Sie zieht ihn alleine groß. Der Vater bleibt vorerst eine Fehlstelle, vorhanden nur auf Fotos, die kein Abbild des wahren Lebens darstellen. Das Kind würde sie am liebsten entsprechend retuschieren. Es ist doch offensichtlich Teil einer Rumpffamilie. Einer wackeligen Angelegenheit vergleichsweise zu einer gutbürgerlichen Konstellation. Und dann ist da noch ein anderes Unterscheidungskriterium. Am Telefon führt Ijoma nach dem Abheben immer auch seinen zweiten Vornamen an: Alexander. An ihm nagt, dass ein Krokodil aus Ebenholz das Wohnzimmer präsidiert. Wie ein Abgesandter eines fernen fragwürdigen Landes steht das Ding da im Bild. „Damit auch der letzte Depp mit der Nase gestoßen wird“, echauffiert er sich. Dabei liegen auch andere Indizien dafür vor, dass seine Abstammung von einer üblichen kurzpfälzischen abweicht. Seine Hautfarbe zum Beispiel. Oder das krause Haar, das, so sein Eindruck, nicht zu kommentieren anscheinend Menschenkraft überfordert. Er ist der Sohn eines Nigerianers, der in Heidelberg seine Facharztabbildung absolviert hat. Ein Jahr nach seiner Geburt, so erzählt ihm die Mutter, sei der Vater in seine Heimat zurückgekehrt. Sie blieb mit ihm, dem Sohn, zurück. Wie abgesprochen. Ein Arrangement unter dem niemand litt. Die Mutter jedenfalls spricht nur gut von seinem Erzeuger. Er selbst würde sich lieber ganz darüber ausschweigen. Dass ihm wildfremde Menschen über den Kopf streichen wie einem Maskottchen, reicht ihm schon. Dass Geld gesammelt wird für Menschen, die seine Hautfarbe haben. „Jeder will doch lieber Deutscher sein, als Afrikaner, jeder will lieber spenden als Almosen empfangen“, sagt er sich. Im Übrigen schreibt er über diese Lebensphase von sich in der dritten Person. „Er beschließt, sich nicht mehr für seine Mutter zu schämen“, heißt es am Ende des ersten, „Der Junge“ überschriebenen Kapitels. Wie er sich fortan in der „Ich“-Perspektive auch mit seiner väterlichen Herkunftsgeschichte nach und nach arrangiert, erzählt sein berückendes Memoire. Und gleichsam wird dabei auch das Gefühl, dass Rassismus in seinem Leben nur als peinsame Selbstdiskriminierung vorkam, zart revidiert. Zu den berührenden Momenten dieses sehr leichtfüßig elegant erzählten Buches gehört, als er schildert, wie er als Junge die schwarze Freundin seiner Mutter einmal ins Dossenheimer Postamt begleitet. Voller Angst vor Zuschreibungen. Aber sie wird hochachtungsvoll bedient. „Ich hatte Deutschland nie als ein rassistisches Land empfunden, auch nicht als Land, das mich zurückstieß“, schreibt er. Er weigert sich jedenfalls strikt, als Typus Opfer zur Verfügung zu stehen. Ijoma, der Vorname bedeutet „Glücksfall“. Als solchen möchte er auch gerne seine Lebensumstände gewürdigt sehen. Allein schon seine Heimatadresse, Heidelberg-Dossenheim, eine linksliberale Blase, die ihn, das sonnige Gemüt, wohlbehütet. Er solle doch einmal ins nahe „Lumpehave“ gehen, warnt ihn so ein befreundeter Zahnarzt, der dort seine Praxis betreibt. In die wirkliche Wirklichkeit. Er habe doch keine Ahnung. Aber so ganz stimmt das nicht. Als er einen „Stern“-Artikel über Rechtsradikalismus liest zum Beispiel, weiß er schon, dass dieser auch von ihm handelt. Trotzdem scheint es ihn nicht anzugehen. Statt seiner Hautfarbe hält er lieber seine kulturellen Vorlieben für sein Stigma. Dass er – mit 13 – anhimmelnd Thomas Mann liest und eingefleischter Wagnerianer ist zum Beispiel. Inzwischen ist er im elitär-traditionellen Friedrich-Kurfürst-Gymnasium angelangt. „Ausländer“ gibt es dort nicht. Und er, der so aussieht wie einer, gibt sich deutscher als jeder Deutsche. Früher hat er sich als Eisenbahnfreund die E-Lok der Märklin-Baureihe 194 gewünscht. Das deutsche Krokodil. Jetzt reüssiert er in der Theater-AG statt wie bisher als erfolgreicher Mittelstreckenläufer mit einer Lunge „wie ein Tier“. Er spricht gestochen Hochdeutsch, neigt zu sprachlichen Altertümlichkeiten. Liebt Italien. „War ich überassimiliert?“, fragt er sich jetzt. Um hinterher zu schieben, dass ihm sein augenscheinlicher Opportunismus aus Ausgrenzungsangst doch zu offensichtlich erscheint für einen Erkenntnisgewinn. Er beginnt zu studieren. Bei einem Aufenthalt in den USA trübt sich seine Blauäugigkeit in Rassenfragen leicht ein. „Ich kannte im Grunde keinen Schwarzen außer mir selbst“, stellt er fest. Ein Einschnitt ist der Brief, den sein Vater ihm aus Nigeria sendet. „Verdammt“, denkt er, „jetzt geht das also doch noch los“. „Blut ist dicker als Wasser“, schreibt sein Vater. Der Sohn hatte bisher nach der Maxime gelebt, „Kultur ist dicker als Blut“. Bald danach steht er auf dem Parkplatz eines Essener Krankenhauses, in dem sein Vater Untersuchungen unterzieht. Für ein Foto, sie beide im Partnerlook, im weißen Gewand eines ranghohen Igbo-Häuptlings des Dorfes Amucha, eine Art Zepter in der Hand. Beide lächeln. Der Vater hat wohl die eigene Dynastie im Kopf. Der Sohn, wie er erfährt, hat er vier Halbschwestern, er fühlt sich kostümiert. Auch mit Nigeria, das er, einige Zeit später für zwei Monate besucht, fremdelt er sehr, während ihn die Großfamilie sogleich vereinnahmt. Als gute Partie. Nachfolger. Derweil singt er unter der Dusche Arien aus dem „Rosenkavalier“. „Unverändert“, stellt er, ganz Literaturwissenschaftler, fest, „lebte meine nigerianische Familie in der Gattung des Epos, ich in der des psychologischen Romans“. Wirklich zusammen, das kapiert auch der Laie, passt das nicht. Gleichwohl ist gegen Nigeria „einfach kein Kraut gewachsen“, wie er erfährt. „Wahn, Wahn, überall Wahn“, den Monolog von Hans Sachs aus Wagners „Meistersingern von Nürnberg“ hat Ijoma Mangold seinem Buch vorangestellt. Eine Klage, dass der Mensch seine Geschicke nicht allein bestimmt. Dass nichts sicher ist. Als seine Mutter stirbt - Mangold erzählt wirklich berührend von ihren letzten gemeinsamen Tagen -, beginnt er jedenfalls in eigener Sache zu recherchieren. Was er ans Licht bringt, zwingt ihn, seine eigenen Erinnerungen an die Erinnerungen zu redigieren. „Mein Ehrgeiz war, ein Buch zu schreiben, aus dem man keine These ableiten kann“, hat er der „Tageszeitung“ gesagt. Die These, dass der Kritiker sich auch als Schriftsteller sehen lassen kann – ohne jede Scham – ist aber sicher nicht zuviel gewagt. Lesezeichen Ijoma Mangold: „Das deutsche Krokodil. Meine Geschichte“; Rowohlt, Reinbek; 345 Seiten, 19.95 Euro.

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