Kultur Aus der ironiefreien Zone

Sein neuer, alter Roman „Die zweite Frau“ entpuppt sich als kriminalistisch-politischer Liebesroman: Günter Kunert wird heute 90
Sein neuer, alter Roman »Die zweite Frau« entpuppt sich als kriminalistisch-politischer Liebesroman: Günter Kunert wird heute 90 Jahre alt.

Für „undruckbar“ befand Günter Kunert sein Romanmanuskript „Die zweite Frau“, als er die Satire auf die DDR 1975 abgeschlossen hatte. Und so verwahrte er den Text 43 Jahre im Archiv. Nun liegt dieser nach „Im Namen der Hüte“ (1967) unverhoffte zweite Roman endlich vor – quasi als Krönung eines reichen Dichterlebens mit etlichen Literaturpreisen und nach über hundert Essay-, Reise- und Gedichtbänden rechtzeitig zu seinem heutigen 90. Geburtstag.

„Die zweite Frau“ ist Kunerts satirische Abrechnung mit dem Realsozialismus der DDR als der Pervertierung einer Idee, an die er ursprünglich geglaubt hatte. Als Sohn einer Jüdin, die ihn früh mit Krimis versorgte, hatte er in der NS-Zeit nur die Volksschule besuchen dürfen und galt als „wehrunwürdig“. Nach dem Krieg studierte er an der Kunsthochschule Weißensee einige Semester Grafik und debütierte 1947 mit dem Gedicht „Ein Zug rollt vorüber“. Mit 19 in die SED eingetreten, wurde dem prominenten Schriftsteller und Bildenden Künstler 1977 die Mitgliedschaft wieder entzogen, nachdem er zu den Erstunterzeichnern der Biermann-Petition gehört hatte. Im Oktober 1979 verließen Marianne und Günter Kunert samt ihrer sieben für die Fahrt sedierten Katzen Ost-Berlin in Richtung Schleswig-Holstein. Den Winter 1974/75 hatten die Kunerts im englischen Warwick verbracht, wo er eine Gastdozentur innehatte. Trotz der vielen neuen Eindrücke, die er in dem Band „Ein englisches Tagebuch“ festhielt, strebten seine Gedanken und Ängste des Nachts ins heimische Ost-Berlin zurück. Spiegelbildlich dichtete Günter Kunert in „Die zweite Frau“ der Hauptfigur Barthold in England spielende Alpträume an, einen „unkontrollierten Aufstand der Gedächtnispartikel“. Barthold, ein Ost-Berliner Archäologe Anfang 50, schläft eines sonnigen Oktobertags bei der Lektüre des „Neuen Deutschland“ in seinem Gartenstuhl ein und träumt von den deutschen Luftangriffen auf London im Zweiten Weltkrieg. In einem Bunker widerfährt ihm eine Begegnung der unheimlichen Art, als Walter Ulbricht seine Hand ergreift und nicht mehr loslässt. Inständig hofft der DDR-Bürger auf eine Verwechslung: „Aber ehe solche Aufklärung stattfinden konnte, erkannte Barthold plötzlich, indem er seinem Gegenüber in die unnatürlich geweiteten Pupillen sah, es müsse vor seinem Eintreten in den Keller Bedrohliches sich begeben haben und er, Barthold, bilde nun unabsichtlich das Hindernis für irgendeinen Walter Ulbricht betreffenden Vorgang. Der bedankte sich jetzt bei ihm für sein Kommen. Er sagte: „Ich wusste es – Sie sind Bart hold!“ […] Das hatte man nun davon. Vick Tor wäre besser gewesen. Oder: Er Ich.“ Damit ist der satirische Ton gesetzt. Der radikale Gegenwartsroman „Die zweite Frau“ konnte in der DDR, die Ironie schlecht vertrug, unmöglich erscheinen. 1971 hatte Erich Honecker den 78-jährigen Walter Ulbricht als Staatsratsvorsitzender abgelöst. Doch das damit verbundene Aufbruchs- und Reformversprechen entpuppte sich als Illusion, ebenso wie die Hoffnung auf eine liberalere Kulturpolitik. Barthold ist aufgrund einer vegetativen Dystonie von der Arbeit an einem historischen Forschungsinstitut krankgeschrieben. Dadurch hat der Steinzeit-Experte die nötige Muße, sich vollumfänglich der Hauptbeschäftigung der DDR-Bürger zu widmen: dem „Warten in allen seinen Erscheinungsformen“. Seine tüchtige Frau Margarete Helene erscheint tief verstört, seitdem sie bei Gartenarbeiten auf einen erodierten Büstenhalter und längliche Knochen stieß. Gehören sie einer gewissen Elfi, von der sie eine Postkarte gefunden hat? Barthold ahnt nichts von dem ungeheuerlichen Verdacht bezüglich des Verbleibs seiner „zweiten Frau“. Im Intershop, der nur Westgeld akzeptiert, rezitiert er beim Warten halblaut aus Michel de Montaignes „Essays“ – ein Fehler. Hatte Kunerts Förderer Bertolt Brecht nicht gesagt, im Sozialismus dürfe man es weder mit der Justiz noch mit der Medizin zu tun bekommen? Als ein Unbekannter mit Notizblock am Gartenzaun auftaucht, rechnet das Ehepaar mit dem Schlimmsten. Mehr sei nicht verraten. So trostlos kleinbürgerlich, wie Günter Kunert das Ost-Berlin in der frühen Ära Honecker zeichnet, so sehr frappieren die Frische, Frivolität und Frechheit seines kriminalistisch-politischen Liebesromans. Lesezeichen Günter Kunert: „Die zweite Frau“; Wallstein Verlag, Göttingen; 204 Seiten; 20 Euro.

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