Sport „Doping ist ein Teil des Ganzen“

Die Leichtathletik steht vor einem Scherbenhaufen. Und der Weltverband IAAF unternimmt wenig bis nichts. Warum? Professor Eike Emrich, Sportökonom an der Universität in Saarbrücken, sagt: Weil sich der internationale Sport zu einem System entwickelt hat, in dem Doping Höchstleistungen zulässt und trotzdem Ehrlichkeit simuliert. Ein Interview von Sven Wenzel

Professor Emrich, Diskuswerfer Robert Harting und andere deutsche Athleten haben dem Leichtathletikweltverband IAAF per Internetvideo in  80 Sekunden das Vertrauen entzogen.

Ich kann die Gefühle verstehen. Auf die ehrlichen Sportler fällt angesichts der jüngsten Ereignisse ein kränkender Schatten, dem sie sich nicht entziehen können. Der Generalverdacht ist in der Leichtathletik angekommen. Jede dritte Medaille zwischen 2001 und 2012 soll an womöglich gedopte Sportler gegangen sein. Steht die Leichtathletik am Abgrund? Ich halte es für vorstellbar – und es kommt für mich nicht überraschend. Der internationale Sport verkauft eine Mischung aus Höchstleistung und scheinbarer Ehrlichkeit. Der Zuschauer will Rekorde sehen und erwartet Wettbewerbsintegrität. Er wünscht sich, dass der Beste wirklich der Beste ist, dass die Leistung ehrlich erbracht wird. Aber: Höchstleistung wird mit Doping unterstützt, Ehrlichkeit wird mit Doping für den Zuschauer unsichtbar untergraben. Das geht nicht miteinander einher. Wie wird dieser Konflikt gelöst? Internationale Sportorganisationen produzieren durch Dopingkontrollen einen Glauben an die Ehrlichkeit des Spitzensports. Zwecks Spitzenleistungen und Rekorden muss es gedopte Höchstleister geben, die nicht entdeckt werden. Natürlich gibt es auch ehrliche Höchstleister – aber der Doper hat eine spezifische Funktion: Das Entdecken einiger lässt uns glauben, die Sieger seien ehrlich. Gleichzeitig führt der entdeckte Doper dazu, dass die Öffentlichkeit weiter an die Ehrlichkeitsnorm des Sports glaubt. Es gibt Tausende auffällige Blutwerte, die IAAF spricht nun von 28 Athleten, gegen die sie vorgeht Die Medien haben Druck erzeugt und ein soziales Klima geschaffen, das dazu führt, dass die IAAF sichtbar für alle Aktionen zeigen muss. Man bestraft rückwirkend Leute, die bei vorangegangenen Ereignissen Medaillen gewonnen haben und deren Namen man meistens gar nicht mehr kennt. Die IAAF erweckt so den Eindruck, etwas gegen Doping in der Zukunft zu tun. Die Leichtathletik-WM in Peking hat gerade   begonnen. Wie wird sie unter diesen Voraussetzungen verlaufen? Das Eigentümliche einer Weltmeisterschaft ist ihr Festcharakter. Da treffen sich weltweit Angehörige der Zivilreligion Leichtathletik, die in tiefer innerer Verbundenheit bis zum regelrechten Fanatismus ihre Sportart zelebrieren. Mit der Eröffnungsfeier werden alle anderen Ereignisse an den Rand gedrängt. Wenn die erste Hochleistung gezeigt wird, springt der Schalter vom kritischen Verdacht um auf die Faszination Spitzensport. Das heißt: Die IAAF muss bei der WM das Problem  nicht  klein halten.  Nein. Sie muss in der Berichterstattung einfach für ein ausgewogenes Verhältnis von Kritik an der Spitzenleistung, Dopingproblematik und dem Faszinosum der Spitzenleistung, den Trainergeschichten, der Personalisierung und Dramatisierung sorgen. Und wenn just in dieser Woche ein Athlet erwischt wird? Dann hat die Geschichte ihren Aufmerksamkeitshöhepunkt, ihren „Skandal“. Aber können wir das noch Skandal nennen? Eigentlich ist es doch eine fast schon erwartbare Begleiterscheinung. Doping als Unterhaltung? Doping ist sowohl als Problem als auch als mediales Element und zur Simulation von Ehrlichkeit höchst funktional und perfekt in das System und Geschäft des Spitzensports integriert. Doping ist kein störender Fremdkörper mehr, sondern Teil des Ganzen. Die Kontrollagenturen verdienen ihr Geld und die Sportorganisationen haben den optimierenden Mittelweg gefunden zwischen dem Bewahren eines gewissen Grades an Integrität des Wettbewerbs und dem Ermöglichen von Spitzenleistungen durch gedopte, nicht entdeckte Athleten. Kann die Leichtathletik diese Krise überwinden?   Wir sind an einem sehr sensiblen Punkt angelangt. Es wird etwas berührt, was das System selbst nicht mehr in der Hand hat, sondern der Konsument. Der Zuschauer wird entscheiden, wie es in der Leichtathletik weitergeht. Hat er eine Präferenz für ehrlichen Sport, werden wir einen Nachfragerückgang erleben, weil der Glaube an die Ehrlichkeit verloren geht. Wenn der Konsument den Unterhaltungswert von Doping und den Nervenkitzel – hat er, hat er nicht? - besonders schätzt, wird sich die Nachfrage von den Ehrlichkeitsanhängern zu den Sensationsinteressierten verschieben. Aber: Ist das, was dann übrig bleibt, noch Sport? Lamine Diack, lange Zeit Präsident der IAAF, ist weg.  Sebastian Coe übernimmt. Wird jetzt alles besser? Das Austauschen einzelner Personen kann möglicherweise Veränderungen in der Organisation bringen. Meistens werden aber Personen für das Amt rekrutiert, die – wie Coe – vorher schon im Dunstkreis der Amtsinhaber waren. Wir sehen ein System der Vererbung sozialer Probleme, in dem schnelle Reformen nicht an der Tagesordnung sind. Die IAAF  zahlt Weltrekordprämien. Ein Anreiz zum Betrügen?   Natürlich. Das ist eine doppelte Falle. Wenn heute die Kontrollen verschärft würden, würde wegen dann sinkender Leistungen schnell klar, dass frühere Weltrekorde nicht mit redlichen Mitteln erzielt wurden. Damit stellt sich der Verband selbst ein Zeugnis aus, mit dem er die Vergangenheit als das enthüllt, was sie war: dopingverdächtig. Also bleibt ihm nur übrig, eine Situation zu schaffen, in der Doping in einem Maß kontrolliert wird, dass Doper ab und zu entdeckt werden. Aber gleichzeitig kommen gedopte Athleten durch. Im Moment kann der Verband damit gut leben, aber langfristig füttert er ein Krokodil, das immer größer wird und ihn am Ende selbst fressen wird. Die Rückkehr zu einem ehrlichen Sport wird immer schwieriger. Tut die IAAF genug gegen Doping? Wie viel ist genug? Das fällt alles der Beliebigkeit anheim. Von Doping profitiert jeder: Spitzenleistung wird produziert, Rekorde werden aufgestellt. Die Nachfrage steigt, jeder verdient mehr. Geschädigt wird nur der nicht-gedopte Hochleistungsfähige, dessen Ruf durch den Generalverdacht leidet. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Wir erleben ein System, von dem alle profitieren, die Ehrlichen aber zusehends abgeschreckt werden. Sie reagieren mit Rebellion und beschweren sich permanent öffentlich – und verlassen das System. Zugleich werden diejenigen angezogen, die eine Affinität zu verbotenen Methoden besitzen. Das Phänomen Doping ist beharrlich. Weil alle daran verdienen, wird man es nicht wegbekommen. Ist der Kampf gegen Doping also nicht zu gewinnen? Wir werden nie einen doping-freien Sport bekommen, weil wir so etwas wie eine Anti-Doping-Industrie haben. Die letzten paar Prozent entdeckter Doper kosten unheimlich viel Geld. Die Frage ist, wie viel Geld in diesen Bereich investiert werden soll. Wo ist das Optimum zwischen eingesetztem Geld und der Anzahl entdeckter Doper? Man kann vielleicht mit Milliarden einen komplett dopingfreien Sport herstellen, ein relativ dopingfreier Sport ist weitaus günstiger. Sind Sportverbände  maß- und skrupellose Vermarktungsmaschinen? Ja. Wir erleben eine sich verschärfende Konkurrenz um mediale Aufmerksamkeit. Das ist ein immaterielles Gut, das aber an vielen Stellen in Geld getauscht werden kann. Sportler müssen bekannt sein, um Werbeverträge zu bekommen. Dazu brauchen sie mediale Attraktivität, gespeist durch vermarktete Ereignisse. Verbände, die um Aufmerksamkeit konkurrieren, sind gezwungen, mitzumachen. So fahren alle, wie mit dem Fahrstuhl, eine Ebene nach oben, um dort mit erhöhter Anstrengung erneut um denselben Kuchen zu streiten. Kann man den Fahrstuhl verlassen? Ein Zurück zu Amateurzuständen gibt es nicht. Wir brauchen ein beschleunigtes Vorwärts mit klaren Regeln, einem Ordnungsrahmen, der sanktionsbewehrt ist, und präzisen vertraglichen Beziehungen zwischen Athlet und Verband. Dort sind die Rechte und Pflichten von Athleten und Verbänden klarer zu regeln. Ein Arbeitsvertrag für Sportler? Zumindest eine sehr viel stärker vertraglich geregelte Austauschbeziehung, als es momentan der Fall ist. Mit den nötigen Konsequenzen im Betrugsfall. Wenn jemand Mist baut, ist er weg. In seinen Verpflichtungen muss der Athlet vertraglich zugestehen, bei Verletzungen der Integrität das Startrecht und damit auch die Einkommenschancen zu verlieren. Ist das ein Konzept für die Zukunft des deutschen Spitzensports?   Wir sind davon sehr weit weg. Wir bewegen uns in einem System, in dem die Ziel-Mittel-Relationen nicht mehr klar sind. Wir wollen den lupenreinen Amateur, der aber gleichzeitig bei Olympia siegfähig ist. Wir wollen jemanden, der sein Studium abschließt, aber dreimal am Tag trainiert. Wir wollen jemanden, der penibel jedes Medikament und Vitaminpräparat protokolliert, damit er keine unnatürliche Leistungsbeeinflussung betreibt. Gleichzeitig erleben wir, auch auf politischer Ebene, einen Medaillenfetischismus. Zwischen 40 und 70 Medaillen, mindestens aber 44 sollen es laut Politik und Deutschem Olympischen Sportbund bei Olympia 2016 in  Rio sein. Wenn weltweit in immer mehr Nationen Athleten in ähnlicher Weise gefördert werden, dann treffen bei internationalen Wettbewerben Sportler aufeinander, die nahezu gleichwertig sind. Am Ende entscheidet der Zufall oder die Tagesform, wer Erster, Zweiter oder Dritter wird. Der Wind entscheidet beim Speerwurf, wer die Goldmedaille gewinnt und wer auf dem Blechplatz landet. Die Paradoxie lautet: Je besser die Förderung, umso unsicherer wird der Gewinn der Medaille, weil immer mehr Nationen in den Wettbewerb einsteigen. Wie kann man in Anerkennung dieser Paradoxie mehr Medaillen als Planziel fordern? Innenminister de Maizière kann das. 30 Prozent mehr Medaillen, fordert er. Für 150 Millionen Förderung könne man schließlich etwas erwarten. Eine unzweckmäßige Bemerkung, die einer demokratisch gewählten Politik angesichts der Autonomie des Sports nicht zusteht. Die staatliche Förderung berechtigt nicht dazu, diese Medaillenanzahl zu fordern. Das Geld ist der Tropfen auf den heißen Stein. Die wirklichen Investitionen tätigen die Eltern, die ihre Kinder ins Training fahren, und die Vereine, die ihre Athleten fördern. Das sind Milliarden an Vorinvestitionen, damit der Bund sich dann einkauft, nationalen Ruhm einheimst und noch dazu deutlich macht, es sei nie genug. Mit Verlaub: Das ist unangemessen! Vielleicht sollte das Ministerium von Herrn de Maizière, eigentlich ein Betrieb zur Herstellung verbindlicher Entscheidungen, im nächsten Jahr bei gleichen Mitteln 30 Prozent mehr Entscheidungen liefern. Heute  treten bei der Leichtathletik-WM acht Athleten, die unter zehn Sekunden laufen, zum 100-Meter-Finale  an.   Bewundere oder verurteile ich sie? Leistungen in diesen Regionen erfordern, Doping hin oder her, ungeheuren Fleiß, Talent und Willen. Sie sind grundsätzlich bewundernswert. Bangen können Sie während der Dopingkontrollen in den nächsten Jahren immer noch. Sie müssen als Zuschauer einen Kompromiss finden zwischen Unterhaltung und dem inneren Gefühl der Enttäuschung über die verloren gegangene Reinheit des Sports. So ist das eben. Warum sollte der Sport ein gesellschaftliches System sein, in dem nur reine Idealisten mit absolut weißer Weste starten?

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