Sport Weiter und weiter

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Jacqueline Fritz ist 312 Kilometer, 35.000 Höhenmeter, Kletterpassagen und Gletscher über die Alpen gegangen. Auf einem Bein. Mit Krücken.

Der aufgeweckte kleine Dackel-Schäferhund-Podenco wuselt um das Auto herum, zerrt sein Frauchen an der Leine heran. „Loui!“, ermahnt sie ihn, nicht allzu streng, während sie die Fahrertür schließt, sich auf zwei Krücken stützt und mit einem breiten Lächeln herüberkommt. Sportliche Klamotten, die langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, ein quietschgrüner Wanderschuh. Das war die erste Begegnung mit Jacqueline Fritz vor knapp zwei Jahren. Seitdem war die junge Südpfälzerin auf dem höchsten Gipfel Deutschlands, ist über das große europäische Bergmassiv gekraxelt, hat sich einen Traum erfüllt, hat es sich und allen Zweiflern gezeigt. Sie ist die erste Beinamputierte, die die Alpen überquert hat. Ohne Prothese. Allein mit der Kraft ihrer Arme und ihres Willens. Der auch nicht verzagte, als an den Händen das rohe Fleisch durch die aufgeriebenen Blasen hervortrat. Sie unter Tränen weiterlief, bis sich die Hand entzündete und sie Fieber bekam. Arztbesuch, entzündungshemmende Salbe, Verband drum, Krücken in die Hand – und weiter. Natürlich immer mit dabei Loui. Ihr vierbeiniger Bezugspunkt, der sich in kurzer Zeit zum echten Bergsteigerhund gemausert hat. Der jede Route mitmacht, der entlang von Gletscherspalten tippelt und mit Frauchen hohe Bergwände überwindet, der sogar sein eigenes Kletter- und Abseilgeschirr hat. Der sie immer wieder mit seinen Aktionen zum Grinsen bringt. Und ihr Kraft gibt. Davon hat die 31-Jährige viel - körperlich und mental. Ein wahnsinniges Durchhaltevermögen. Denn wer ihre Geschichte hört, muss erst einmal schlucken. Doch dabei blieb es nicht. Immer wieder kämpfte sie mit Schmerzen im Bein, musste hohe Medikamentendosen nehmen. Um ihr die Handhabung zu erleichtern und die Nebenwirkungen zu senken, wurde ihr eine Morphiumpumpe in den Bauch eingesetzt. Nach einer Weile wollte sie es wieder mit weniger Schmerzmitteln versuchen und die Pumpe sollte entfernt werden. „Doch dabei wurde wieder ein Fehler gemacht, das Loch nicht verschlossen, wodurch es in der Folge zu Hirnwasserverlust kam“, sagt sie. Wegen der schweren Erkrankung musste sie für zwölf Wochen in Reha in eine Fachklinik im bayerischen Füssen. Doch die Schicksalsschläge zogen sie nicht in die Tiefe, sondern in die Höhe. Dort unten lernte sie die Berge lieben. Bei Wanderungen entdeckte sie ihre Leidenschaft für die alpine Welt. „Ich stand gerade auf einem 2300 Meter hohen Berg, als ich mir dachte: Es wäre cool, hier einfach weiterzulaufen und weiter und weiter.“ Eine Idee war geboren. Sie trainierte, organisierte und schaffte über Sponsoren und Crowdfunding Geld heran, um ihren Traum wahr werden zu lassen. Und sie begegnete Skeptikern, die die Idee zwar cool fanden, sie aber für verrückt hielten. Im Sommer 2016 startete sie dann inklusive eines Kamerateams, das ihr großes Abenteuer filmisch festhielt. Der Film soll diesen Sommer fertig werden und dann Vorträge untermalen, in denen sie anderen Mut machen will, an sich zu glauben. „Man kann die Ziele, die man sich setzt, erreichen, wenn man dafür brennt und kämpft“, ist sie überzeugt. Denn die Amputation hat ihr zwar ein Bein genommen, nicht aber ihre Willenskraft und ihre Sportbegeisterung. Neben dem Bergsteigen ist Fritz, die in Bad Bergzabern eine kleine Werbeagentur betreibt, begeisterte Schwimmerin, Kletterin, Reiterin und Luftgewehrschützin. Mit ihrer Mannschaft wurde sie 2016 Kreis- und Pfalzmeisterin. Zur deutschen Meisterschaft konnte sie nicht mit, denn die Berge riefen. Und die meisten Aktivitäten meistert sie ohne Prothese. Wie auch ihren Alpencross. Das künstliche Bein behindere sie in den Bergen nur. Die Prothese scheuere, sei schwer und müsse mit Strom aufgeladen werden. Man habe zudem kein Gefühl für den Untergrund. „Außerdem wollte ich zeigen, was ein Mensch aus eigener Kraft leisten kann.“ Dabei hatte sich Fritz keine einfache Route ausgesucht. Den Standard-Fernwanderweg E5 ließ sie links liegen und stellte sich selbst eine anspruchsvolle Tour mit schmalen Wegen, Geröllfeldern, Kletterpassagen und Gletschern zusammen. „Ich wollte zeigen, was ich kann.“ Mit einem 15 Kilogramm schweren Rucksack auf dem Rücken war sie täglich acht bis zwölf Stunden auf den Armen – denn fürs Bergsteigen braucht sie etwa doppelt so lange wie ein Zweibeiniger. Gleich zu Beginn stand mit dem Erklimmen der Zugspitze ein hartes Etappenziel auf dem Plan. Durch Fels- und Flusslandschaften bahnte sich Fritz und ihr Team den Weg zur Höllenberghütte. Von hier stieg die Crew am nächsten Morgen um 4 Uhr mit Stirnlampen dem Sonnenaufgang entgegen, bewältigte den ersten Klettersteig und stieg auf Steigeisen um, als die Gletscherpassage vor ihr lag. „Doch dann wurde es immer steiler, ich musste eine andere Technik für mich finden“, wurde Fritz schnell klar. Not macht erfinderisch und so kroch sie auf allen vieren über das Eis voran. Nach einem weiteren Klettersteig erreichte sie mit letzten Kräften nach 13 Stunden das Münchner Haus auf dem mit 2962 Metern höchsten Gipfel Deutschlands – der Zugspitze. Dort oben in den Bergen habe sie sich auf die kleinen Dinge besinnt. „Es wird einem bewusst, auf was es im Leben ankommt.“ Diese Erkenntnis möchte sie sich erhalten. Und in zwei, drei Jahren wieder auffrischen. Denn mit dem Erlös ihres Bergfilms möchte sie gleich das nächste Abenteuer-Projekt finanzieren. Kanu, Zelten, Klettern, Bergsteigen. So etwas in der Art. Und bis dahin findet man sie auf dem Rücken der Pferde, beim Bouldern im Pfälzerwald oder am Schießstand.

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