Panorama Kein Horrorkabinett

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LEIPZIG. Das Sächsische Psychiatriemuseum in Leipzig ist nicht das einzige Museum in Deutschland, das sich dem Thema Psychiatrie gewidmet hat. Trotzdem ist es etwas Besonderes: Es wird von einem Betroffenenverein betrieben. Ursprünglich als kurzzeitige Attraktion gedacht, besteht das Museum mittlerweile seit 15 Jahren.

Die Zwangsjacke steht mitten im Raum, scheinbar frei schwebend in einer Glasvitrine. Sie ist das Herzstück des Psychiatriemuseums. Wie kaum etwas anderes steht sie für die Geschichte der Psychiatrie, ist Sinnbild des Horrors. Ein Horrorkabinett ist das Sächsische Psychiatriemuseum in Leipzig nicht. Im Gegenteil: Die drei Ausstellungsräume sind hell und fast enttäuschend klein: 90 Quadratmeter in der ersten Etage einer schicken, um die Jahrhundertwende gebauten Villa in guter Wohnlage. Im Flur riecht es noch nach Essen, die Mittagszeit ist gerade vorbei. „Hier wird jeden Tag frisch gekocht“, erklärt Museumsleiter Thomas Müller, „das Mittagessen ist ein weiteres unserer Angebote.“ Mit „uns“ meint Müller den Betroffenenverein „Durchblick“, der das Museum ins Leben gerufen hat. Im Erdgeschoss des Gebäudes befindet sich eine Kontakt- und Begegnungsstätte. Fast täglich sind die Türen geöffnet, es gibt Angebote wie zum Beispiel Kunstwerkstätten. „Hier findet Hilfe zur Selbsthilfe statt“, sagt Müller. Er betont: „Das ist kein Ort, der abgeschottet ist, zu dem nur Betroffene Zugang haben.“ Jeder sei willkommen, die Kreativkurse etwa würden auch von anderen genutzt. Um das Thema Psychiatrie noch mehr Menschen zugänglich zu machen, entschied sich der 1990 gegründete Verein dazu, ein Museum zu eröffnen. „Ursprünglich war nicht geplant, dass es so lange laufen sollte“, erzählt Müller, der 1990, nach Abschluss eines Studiums der Germanistik, über einen befreundeten Psychiater zum Verein kam. Seitdem übernimmt er die Öffentlichkeitsarbeit. „Als im Verein die Idee mit dem Museum aufkam, habe ich uns damals aus einem Größenwahn heraus zur Museumsnacht angemeldet.“ Damals, das war vor 15 Jahren. Den Start hatte der Verein sich einfacher vorgestellt, erinnert sich Müller. „Wir dachten, historische Objekte für die Ausstellung zu sammeln würde einfach werden, da es in Leipzig und Umgebung viele Anstalten gab, die im 19./20. Jahrhundert gegründet wurden.“ Doch zum einen waren viele dieser Anstalten schon saniert, das Inventar war weggeworfen oder weggegeben. Zum anderen stieß die Idee des Vereins bei Psychiatern und Anstaltsleitern auf Skepsis. „Viele dachten wohl, wir planen ein Horrorkabinett oder wollten zeigen, wie schrecklich die Psychiatrie die Betroffenen behandelt hat.“ Also legte der Verein einfach los. Mit der Zeit verschwanden die Vorbehalte. Obwohl im Museum auch die dunklen Kapitel beleuchtet werden – Behandlungsapparate aus den vergangenen beiden Jahrhunderten, die an mittelalterliche Folterinstrumente erinnern, die Euthanasie von Geisteskranken während der NS-Zeit – will das Museum in erster Linie nicht anprangern, sondern einen soziokulturellen Blick auf die Geschichte der Psychiatrie ermöglichen, die in Leipzig viele Spuren hinterlassen hat. Diesen anderen Blick ermöglicht Museumsleiter Müller bei einer Führung durch die Stadt, die der Verein in unregelmäßigen Abständen anbietet. In der Katharinenstraße etwa steht das Haus von Johann Christian August Heinroth, der ab 1811 auf den weltweit ersten Lehrstuhl für Psychiatrie berufen wurde. Heinroth war stark theologisch geprägt. Er glaubte, dass psychische Erkrankungen Ergebnis eines sündhaften Lebens seien – eine Theorie, die einem seiner Zeitgenossen zum Verhängnis werden sollte: Der Soldat Johann Christian Woyzeck, Vorbild für Georg Büchners Drama „Woyzeck“, wurde 1824 in Leipzig hingerichtet, obwohl er Anzeichen von Depressionen und Schizophrenie zeigte. „Der Gutachter, der Woyzeck untersuchte, war ein Verfechter von Heinroths Theorie und sagte, wer solch ein unmoralisches Leben führt wie Woyzeck, der ist an seinem Schicksal selbst schuld“, sagt Müller und hält auf dem Marktplatz eine Grafik hoch: Sie zeigt den Platz am 24. August 1824. Tausende Schaulustige kamen, um die Hinrichtung des Soldaten zu sehen. In der Museumsausstellung begegnet neben Woyzeck dem Besucher auch ein anderer berühmter Leipziger Psychiariepatient: Daniel Paul Schreber. Der Justizbeamte litt an Wahnvorstellungen, glaubte, Gott vollführe Wunder an ihm. 1903 erschienen die „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, in denen Schreber seine Psychose im Detail beschrieb. Berühmte Psychiater wie Sigmund Freud befassten sich intensiv mit seinem Fall. Die Ausstellung beleuchtet auch die Entwicklung der Psychiatrie. Es finden sich Zeichnungen und Modelle von barbarischen Behandlungsmethoden wie dem „hohlen Rad“: Eine Art Hamsterrad, in das unruhige Patienten gesteckt wurden, bis sie sich beruhigten. „Die Idee dahinter war, den Körper so sehr zu ermüden, dass dadurch auch der Wahn verschwindet“, erklärt Müller. Im letzten Raum steht ein Objekt an der Wand, das ab 1913 in Einrichtungen eingesetzt wurde: Die Netzbehandlung – ein Bett, darüber ein enges Netz, in das der Patient eingewickelt wurde, bis er ruhiggestellt war. „Es sollte humaner sein als eine Zwangsjacke“, sagt Müller, „da der Patient Arme und Beine bewegen konnte.“ Ein Ausschnitt aus einer Dokumentation, die auf einem kleinen Monitor über dem Bett zu sehen ist, zeigt, wie es wirklich war: Ein ehemaliger Patient einer Leipziger Einrichtung erzählt, dass die Betroffnen oft stundenlang im Seil lagen. Pfleger geben zu, dass die Methode vor allem als Strafe eingesetzt wurde. Das Pflegepersonal sei oft einfach überfordert gewesen. „Das ist zwar keine Entschuldigung“, sagt Müller, „aber es ist auch wichtig, bei diesen Dingen den Kontext zu betrachten. Es war nicht so, dass alle Pfleger einfach böse Menschen waren.“ Die Sichtweisen, die die Ausstellung auf die Geschichte der Psychiatrie bietet, sind vielseitig. Im Flur hängen Bilder der gehörlosen Künstlerin Anne-Kathrin Störmer, selbst Psychiatriepatientin. In ihren Werken verarbeitet Störmer eigene Erfahrungen und arbeitet die Psychiatriegeschichte an sich auf. In einem ihrer Bilder stellt sie sich vor, wie in einem Ort, in dem ein Hersteller von Zwangsjacken ansässig ist, diese von allen Einwohnern zweckentfremdet werden – als Schwimmhilfe, als Gurt in Fahrzeugen. Die Zwangsjacke in der Ausstellung wirkt so zumindest für einen Moment nicht mehr so bedrohlich. Öffnungszeiten : Mittwochs bis samstags 13 bis 18 Uhr, sowie nach Vereinbarung. Näheres im Netz unter www.psychiatriemuseum.de Die Serie In der Serie „Alles, außer gewöhnlich“ stellen wir besondere Orte und Menschen in Deutschland vor.

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