Speyer Freistoss:

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Die Fußball-Europameisterschaft nimmt auch in Speyer Fahrt auf. Rolf Güdemann vom Judosportverein läuft ein Eis schleckend, das Deutschland-Täschchen in der Hand, durch die Heydenreichstraße. Aus dem Kaufhaus am Eck trägt eine Dame ein selbiges heraus. Im nahen Supermarkt hängen vier schwarz-rot-goldene Fahnen, eine steht auf der Theke. Es gibt Wurst aus Teilnehmerländern wie Österreich und Ungarn, einen holländischen Fußballkäse. Eine Kundin erzählt, dass sie vor Nervosität gar nicht zuschauen kann. Auf dem Parkplatz an der Stadthalle weht die Fahne aber in Gedenken an Flüchtlinge. Ein Autofahrer mit Ludwigshafener Kennzeichen hat Kärtchen in die Kühlerhaube gesteckt. Im Park dahinter setzen Papa und Töchterchen das am Fernseher Verfolgte gleich um, spielen Abend für Abend Pässe oder jagen mit dem Ball am Fuß die Häschen. Das bestgeschmückte Fahrrad steht auf dem Postplatz: zwei Fähnchen am Korb, eines am Lenker. Immer wieder umrunden Autos mit Fahnen rechts wie links den Pavillon, steuern aber auch durch Heydenreichstraße ins Parkhaus, Dudenhofer Straße, oder die Halter legen das Fähnchen im Heck ab. Sie stehen mehrfach in der Mühlturmstraße, mit Aufkleber und Außenspiegelüberzug in der Hellergasse. Preis eins für die aufgebrezeltste Straße geht an die Untere Langgasse. Deutsche und französische Fahnen in den Hinterhöfen, an der Schokoladenseite, an der Balkontür, dem Geländer, Schals drinnen. Eine Frau steigt in ihr besonders schön mit 2016 und Maskottchen Super Victor verziertes Auto. Stoff weht aber auch in Landwehr-, Benz- und natürlich auf der Hauptstraße. „Wer spielt?“, fragt eine Frau in der Innenstadt: „Ich weiß es nicht“, sagt ihr Begleiter. In der Kneipe in der Heydenreichstraße, in der ein Deutschland-Schal an der Wand hängt, reichen die Tipps für Deutschland gegen Nordirland von 3:1 bis 0:0. In 45 Minuten geht’s los. Der nächste Trikotträger steuert die Wirtschaft an. Auf der Hauptstraße gibt das auf den Rücken fallende lange braune Haar mit blonden Strähnchen einer Jugendlichen nur ab und zu preis, wem ihr Herz gehört. Es ist Germanys Nummer 19, also Mario Götze. Die besten Plätze im Freien sind weg. Vor der Postgalerie steht ein Schalträger und eine mit geschminkter Wange. Drinnen schmücken Deutschland-Decken die Biertische. Vorne beim Italiener steckt ein Fähnchen, hinten beim Bäcker mehrere. Ein Baby im Korb strampelt sich für die Karriere ein. Ein Partygast mit riesigem Hut guckt verwundert durch das Gitter in der Mühlturmstraße, wo der Bach gluckert. „Die verlieren“, meint eine Frau. Doch dann gewinnen sie. Kaum Böller, ab und zu Hupen. Dann siegt Kroatien, ein paar Hupen mehr. Der Morgen danach. Ein Mann im Shirt des 1. FC Köln läuft durch das Altpörtel. Sportunterricht am Schwerd-Gymnasium in Speyer. Ein Schüler sprintet in Richtung der großen Purrmann-Halle. Er trägt ein Deutschland-Trikot, das etwas unecht aussieht. Wahrscheinlich nachgemacht. Aber die Hauptsache ist, dass der WM-Finaltorschütze Mario Götze mit der Nummer 19 auf dem Trikot Platz findet. Deutschland gegen die Ukraine in Harthausen. Im Dorf gleitet der angenehme Geruch des Grills durch die Nasen. Tor für Deutschland. Mustafi köpft ein. Plötzlich ertönt die Vuvuzela. Erinnerungen an die WM 2010 erwachen. Auch die Nicht-EM-Gucker sind spätestens nach diesem Tröten hellwach. Während das Spiel Türkei gegen Kroatien um 15 Uhr stattfindet, laufen Leute seelenruhig durchs Dorf. Schauen die kein Fußball? Ob sich Harthausen überhaupt für die EM interessiert? Nein? Doch! Einen Vorgarten in der Jakobsgasse ziert eine große Deutschlandflagge. Bei genauerem Hinsehen: Ein kleineres Exemplar steckt in einem Blumentopf. Ein einzelner Beweis, dass Harthausen ein Fußballdorf ist, reicht mir persönlich leider noch nicht. Ein Mann läuft zum Bäcker. Sein Blick fällt ins Schaufenster. Ein schwarz-rot-goldener Regenschirm soll wohl EM-Stimmung herbeiführen. Der Mann, mit dem ich das Spiel gegen Polen verfolge, freundet sich mit dem Ergebnis mehr an als mit der Einwechslung von André Schürrle: „Oh nee, oder?“ Der Tag danach. An einer Mauer steht eine leere Bierflasche. Public Viewing? Frusttrinken? Eher letzteres. Aus vielen Fenstern hängen Fahnen der Landesfarben. Auch die Jüngsten zeigen Interesse an der EM. Aus einem Kinderzimmer in der Waldstraße weht ebenfalls eine Flagge. In der Kardinal-Wendel-Straße stabilisiert ein geschlossener Rollladen eine weitere Fahne. Ein Mercedes mit einer Flagge an der Scheibe nimmt einem Auto, welches mit Deutschland-Außenspiegelüberzug bestückt ist, in der Schönbrückstraße die Vorfahrt. Obwohl Mercedes der offizielle Sponsor der Nationalmannschaft ist, gibt es keinen Grund, die Rechts-vor-links-Regel nicht zu achten. Wenige Minuten später. Der Verkehrssünder parkt, diesmal alles in Ordnung. Nahe der Harthäuser Kirche parkt ein Auto mit einem Deutschland-Aufkleber. Ob das wirklich Zufall ist? Vielleicht gibt es ein wenig göttlichen Beistand für den deutschen Angriff. Möglicherweise ändert sich dann auch die Meinung zu Schürrle. Die Motorhaube eines BMW ist vollkommen in Schwarz-Rot-Gold getaucht. Ich zweifle nicht mehr. Harthausen ist im EM-Fieber. Muss nur noch die Offensive um Schürrle aufwachen. Die Sportredaktion wünscht Götze viele Tore |mer

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