Speyer „Raum für Reaktionen“

Die Autorin Angela Steidele liest am Mittwoch, 30. Mai, 19 Uhr, im Speyerer Kulturzentrum Eckpunkt aus ihrer erotischen Biografie der britischen Landadligen Anne Lister. Wäre diese ein Mann gewesen, würde man sie Frauenheld nennen, Schwerenöter, Lüstling oder einfach nur Schuft. Denn sie hat im 19. Jahrhundert reihenweise Frauen den Kopf verdreht. Birgit Möthrath hat vorab mit der Autorin gesprochen.

Frau Steidele , taugt denn Anne Lister als Emanzipationsikone? Sie beschreiben ja, dass sie keine Revolutionärin war: Wurde eine ihrer Frauen sexuell zu fordernd, zweifelt sie an deren Sittlichkeit. Und die Arbeiterbewegung betitelte sie als Reformseuche.

Anne Lister ist eine sehr zwiespältige Heldin. Sie war konservativ bis ins Mark, hat gegen die Gewerkschaftsbewegung gekämpft, wollte an ihren überkommenen Adelsprivilegien in jedem Fall festhalten. Das alles macht sie für uns heute nicht anbindungsfähig. Zugleich war sie aber eine Frau, die sich nicht damit zufrieden gegeben hat, ein Leben zu führen, das für sie als Frau in all seiner Begrenzung vorgesehen war. Sie hat ein selbstbestimmtes, freies, lustbetontes Leben geführt. Dafür verdient sie unsere Bewunderung. Sie bewundern also Ihre Heldin? Wie gesagt: In allem Zwiespalt. Eine zu 100 Prozent positive Heldin ist mit Anne Lister nicht zu haben. Dass sie uns etwas verstört, wirft ein interessantes Licht auf uns selber. Wir suchen heute immer nur positive Heldinnen und hoffen, historische Frauengestalten müssen es doch besser gemacht haben. Dem ist aber nicht so. Frauen sind Menschen mit all ihren Schwächen – in der Vergangenheit genauso wie in der Gegenwart. Anne Lister hat ja die Konventionen auch in anderer Hinsicht gesprengt, etwa mit einer Trekkingtour ins heutige Georgien, auf der sie 1840 starb. Unbedingt, da haben Sie Recht. In einer Zeit, in der Frauen aus England maximal in die Schweiz und nach Frankreich reisen konnten, ist sie in den Kaukasus gefahren, nach Aserbaidschan und Georgien, in Regionen, die auch heute noch abgelegen sind. Ich weiß das, weil ich ihr hinterhergereist bin. Darüber schreibe ich gerade das Nachfolgebuch. Sie ist auf der zugefrorenen Wolga 2000 Kilometer im Pferdeschlitten bis ans Kaspische Meer gefahren. Welche Kraft, Energie und Neugier diese Frau hatte, was für eine Reiseleidenschaft, die von uns heute vielleicht niemand mehr aufbringen könnte! Das Reisen damals war ja wesentlich abenteuerlicher. Im Kaukasus hat sie eine mehrwöchige Pferde-Trekkingtour gemacht, wo es nun wirklich keinerlei Komfort mehr gab. Das war Überleben in der Wildnis. So was trauen wir einer Frau, die der Zeit der Brontë-Romane entsprungen scheint, nicht unbedingt zu. Das erweitert unser Bild vom Frauenleben im 19. Jahrhundert gewaltig. Eine Qualität Ihrer Biografie ist, dass Sie Ihrer Heldin keine moralische Deutung überstülpen. Wie schaffen Sie es, mit historischen Quellen zu erzählen, ohne aus dem eigenen Erleben in Menschen mit ganz anderem Hintergrund zu viel hineinzuinterpretieren? Ich freue mich, dass Sie das so sehen, denn das war meine Absicht. Mir ist natürlich bewusst, dass ich schon durch die Auswahl der Zitate das Bild lenke. Aber ich versuche, meine eigene Rede so zu gestalten, dass sich die Leser weitestgehend ein eigenes Bild machen können. Mich hat Anne Lister an vielen Stellen auch aufgeregt. Mir war aber ganz wichtig, dass ich Vorurteile meinerseits tilge. Denn jemand anderes mag denselben Sachverhalt anders beurteilen. Ich habe Reaktionen von Lesern erhalten, die Anne Listers Polygamie schlichtweg bewundern. Ihr Verhalten kann genauso gut Entrüstung auslösen. Mir war es wichtig, beiden Reaktionen Raum zu geben. Daher auch der starke Anteil an Originalzitaten. Wäre Anne Lister ein Mann gewesen, wäre sie überhaupt einer Biografie wert? Da wäre sie derartig im Erwartungsspektrum geblieben, dass Männer Röcken hinterherjagen, dass man mit den Achseln gezuckt hätte: „So what!?“ Wie sind Sie auf Anne Listers Tagebücher gestoßen? Seit 1988 sind mehrere Editionen mit Auszügen aus Anne Listers Tagebüchern erschienen, natürlich nur auf Englisch und in kleiner Auflage. Es ist schwer, sich die Texte kommen zu lassen. Ich bin die Erste, die Anne Lister überhaupt einem deutschsprachigen Publikum präsentiert. Lesezeichen Angela Steidele: „Anne Lister. Eine erotische Biografie“. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. ISBN 978-3-95757-445-9.

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