Speyer Ein rasanter und radikaler Rap

„GRM“ heißt ihr neuer Roman: die Autorin Sibylle Berg.
»GRM« heißt ihr neuer Roman: die Autorin Sibylle Berg.

Da es für Literatur (noch) keine Nichtraucherregelungen gibt, ist es unproblematisch, dass sich Ferdinand von Schirach mit seinen Memoiren „Kaffee und Zigaretten“ wohl vorerst in den Speyerer Bestsellerlisten festgeschrieben hat. Die übrigen moralischen Grenzüberschreitungen, die Interessierte zwischen den Buchdeckeln der Bestverkauften erwarten, sind da etwas heikler: Ein Doppelmord internationalen Kalibers im beschaulichen Burgund (Martin Walker), die Präparation einer mumifizierten Leiche in einem ehemaligen Londoner Krankenhaus (Simon Beckett), familiärer Psychoterror in einer fensterlosen Waldhütte (Romy Hausmann) und grausame Folterungen und Verstümmelungen im schlammigen Schweden das Jahres 1793 (Niklas Natt och Dag). Während Natt och Dag für seinen düsteren Debüt-Roman intensiv nach Gräuel und menschlichen Abgründen recherchierte, konnte sich Saša Stanišic („Herkunft“) seine Beschäftigung mit diesem Thema nicht selbst aussuchen. Mit seine Mutter floh er in den 1990er Jahren aus den Wirren des Jugoslawien-Kriegs nach Deutschland. Er kam nach Heidelberg, einen Ort, der auf ihn so wirkte, als sei alles hier schon immer genau so gewesen. Bruchlos schön und sicher. In Herkunft kehrt Stanišic literarisch in seine oftmals schmerzvolle Vergangenheit zurück. Dabei bleibt er poetisch empfindsam. Auf dem Drahtseil seiner schwankenden Identitätssuche vollführt er einen von Mythen und Abschieden gesäumten, atemberaubenden erzählerischen Balanceakt zwischen gestern und morgen. Auch die Don beschäftigt ihre Herkunft: Die Heranwachsende hasst den Ort, den ihr das Schicksal zugewiesen hat, Rochdale, eine halbe Stunde Bahnfahrt von Manchester entfernt und eine der zahlreichen vergessenen, verblichenen nordenglischen Städte. Einst war sie bekannt durch ihre florierende Wirtschaft und die Pionierleistungen der Genossenschaftsbewegung. Nun ist sie nur noch ein bewohntes Freilichtmuseum für postindustriellen Weltschmerz. Don ist neben Peter, Hannah und Kate Protagonistin in Sybille Bergs neuem Roman „GRM“, sprich Grime, also Schmutz, Dreck. Rochdale ist ein hervorragendes Ausgangs-Setting für den sozialkritischen Zukunftsroman der deutschsprachigen Autorin und Künstlerin, die eine große Fangemeinde hat. „GRM“ ist ein Roman über Gesellschaft im Neoliberalismus, die Politik der totalen Überwachung und die Jugend der Postmoderne. Das Leben in der abgeschriebenen Kleinstadt ist nichts für zarte Gemüter, Jugendliche finden sich dort musikalisch im Stil des Grime wieder – einem schnellen Hip-Hop, dessen kreative Quelle die Wut gegen Ungerechtigkeit und Marginalisierung ist. Ernüchtert von der Aussicht auf ein Leben von Sozialhilfe und früher Elternschaft im Norden Großbritanniens entfliehen die vier Jugendlichen dem Schatten ihrer Hochaussiedlung, der „Sieben Schwestern“. Ihr Weg führt nach London. Dort erleben sie die Realität eines „sozialen“ Überwachungsstaates: In ihm erhalten die Armen nur dann ein Grundauskommen, wenn sie sich als Gegenleistung einen Micro-Chip einpflanzen lassen und ihre Körper-Daten zur Verfügung stellen. Sybille Bergs Roman zeichnet eine nahende Gesellschaftskonstellation, in der Solidarität zunehmend versiegt. Verlierern des Kapitalismus bleibt darin nur tiefe Abneigung gegen die aktuelle Welt. Berg sieht hin, wo andere lieber wegsehen, hört sich an, was unbequem anzuhören ist, bringt Stereotype in den Umlauf und nimmt sie dann zynisch wieder zurück. Das Buch ist in rasanter, radikaler Rap, der die Wege zwischen Regen und Traufe gnadenlos ausleuchtet. In seiner dunklen Grundstimmung ist GRM ein mutiges Statement gegen soziale Ungerechtigkeit und für Solidarität mit der Wut der Abgehängten.

Jugoslawien-Krieg als Thema: Saša Stanišic schrieb „Herkunft“.
Jugoslawien-Krieg als Thema: Saša Stanišic schrieb »Herkunft«.
x