Speyer Direkte Frische und Dynamik

Enorme Suggestionskraft: Sänger der Gruppe „Musica Nova“ am Sonntagabend in der Speyerer Domkrypta.
Enorme Suggestionskraft: Sänger der Gruppe »Musica Nova« am Sonntagabend in der Speyerer Domkrypta.

Die frühesten musikalischen Ausdrucksformen für das Generalthema Marienlob standen am Sonntagabend in der Speyerer Domkrypta im Mittelpunkt: In einem herben und frischen Zugriff führte das französische Gesangsensemble „Musica Nova“ die sechsteilige „Messe de Notre Dame“ des nordfranzösischen Komponisten Guillaume de Machaut aus dem 14. Jahrhundert auf.

Das Interesse an Vokalmusik des ausgehenden Mittelalters ist allgemein groß. Die Musikwissenschaft hat für die Epoche der Komponisten um die Kathedralen von Paris und Reims die sogenannte „Ars Nova“ ausgemacht. Als schönes Beispiel für die dabei über gregorianischen Grundlinien schwebenden Schmuckstimmen gilt Machauts 1360 in Reims entstandene „Messe de Notre Dame“. Entschlossen und zweckdienlich leitete Lucien Kandel sein Ensemble mit zwei Frauen- und fünf Männerstimmen. Bei aller Verschiedenheit von homophonem „Gloria“ und „Credo“ einerseits und den stärker variierenden Teilen „Kyrie“, „Sanctus“, „Agnus Dei“ sowie – als Besonderheit – einem bewegend aufgeschichteten „Ita missa est“ andererseits überzeugten sie doch mit direkter Ausdruckskraft, Frische und Dramatik. Gewöhnungssache war die harmonische Herbe zwischen frei schwebenden Schmuckstimmen und dem festen Untergrund der tiefen Männerstimmen. Funktionsharmonik und italienischer Renaissance-Wohlklang waren da noch nicht zu erwarten. Dafür erzeugte Kandel mit Vorsängern in den homophonen Teilen aber auch eine sakrale Aura. Durchdringendes stimmliches Engagement schuf eine enorme Suggestionskraft. Der seinerzeit unübliche Einsatz der Frauenstimmen ergab einen helleren Grundklang. Ob die Messe in Reims 1360 tatsächlich so vital und kraftvoll geklungen hat wie am Sonntag in der Domkrypta, mag zweifelhaft sein. Jedenfalls war es diesmal eine aufrüttelnde Begegnung. Im ersten Konzertteil mit Sätzen von Pérotin und Léonin war zuvor mit dem „Alleluja“ auf die „Nativitas Gloriosae“ – die ruhmreiche Geburt Christi – ein besonders schönes Zeugnis für die Anreicherung der „Ars Nova“ durch heitere, kleingliedrige Klänge der Volksmusik zu hören: In einer Art Raumklang spielte „Musica Nova“ jenseits des gregorianischen Psalmodierens in freudiger Erregung mit Tempo und Silben. Zu Beginn hatten Sätze zur Keuschheit Mariens („Dum sygillum“), zur Marienhoffnung („Beata viscera“) und zum Meerstern Mariens in kunstvollen Textverarbeitungen, mäandernden Ausschmückungen und kraftvoller Freude das Publikum erbaut. Allerdings wäre ein Hinweis auf den gegenüber dem verteilten Programm leicht veränderten Ablauf wünschenswert gewesen.

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