Neustadt Von Anfang an packend

Neustadt. Dass Alte Musik spannend, mitreißend, ja geradezu aufregend sein kann, bewies am Sonntagabend in der Stiftskirche einmal mehr Fritz Burkhardt mit den von ihm gegründeten und geleiteten Klangkörpern, dem Neustadter Figuralchor und dem Ensemble 1800, sowie einem bestens zusammengestellten Solistenquartett. Transparent, klangfarbenfreudig und bewegt brachten sie zwei Magnificat-Vertonungen von Johann Sebastian Bach und seinem Sohn Carl Philipp Emanuel.

Allein diese Programmzusammenstellung ist schon hochinteressant: Vater und Sohn haben im Abstand von gut 25 Jahren denselben liturgischen Text, den lateinischen Lobgesang Mariens, in Töne gesetzt, beide höchst festlich mit Pauken und Trompeten, und es ist faszinierend zu vergleichen, wie sehr die Komposition des Sohnes einerseits auf der seines Vaters fußt und wie sehr sie andererseits andere Wege geht, weil der Geschmack sich gewandelt hat – vom verschränkt polyphonen Geflecht gleichberechtigter Stimmen und von der klangmalenden Ausdeutung einzelner Textaffekte hin zur homophonen Herrschaft einer Melodielinie und einheitlichen Gesamtbewegung. Es gibt bei Carl Philipp Emanuel Bach Stellen, an denen man Mozarts Thamos-Chöre zu hören meint, und auf irgendeine Weise hängt das Kyrie in Mozarts Requiem thematisch mit der Schlussfuge des Magnificats von Bach junior zusammen. Dem Hörer wird also auch der wenig bekannte Weg zwischen zwei Hauptsäulen der Musikgeschichte gezeigt, die in aller Ohren sind. Gleichsam als Zusatzinformation gibt es einen in die Klangwelt der Graunschen Oratorien führenden Kantateneingangschor des älteren Bruders Wilhelm Friedemann Bach („Lasset uns ablegen die Werke der Finsternis“). Wie aber wird das alles gemacht? Vor allem so, dass keine einzige Passage langweilig, nichts einfach nur so runtergefiedelt wirkt. Es steckt ungemein viel interpretatorische Arbeit und das Wissen, dass diese Musik aus der lebendig-bewegten Gestaltung ihrer kleinsten Bausteine, gleichsam der einzelnen Worte, aufgebaut werden muss, in den präzis ausgefeilten Details, an denen der Chor, die Solisten und – ohne die Genannten herabsetzen zu wollen – besonders das Orchester Anteil haben. Da leuchten die Trompeten beweglich-schlank und strahlend, da donnern die Pauken, da wird eine bloße Generalpause zum Erlebnis, und es gibt namentlich in der älteren Komposition immer wieder ganz großartige feine, klanglich delikat abgestimmte solistische Passagen, in denen Gesangssolisten mit einzelnen Instrumenten konzertieren. Immer wieder fällt hier die Cellistin Rebeca Ferri durch den stets plausibel eingesetzten Reichtum ihrer Artikulationsmöglichkeiten auf; auch andere könnten hervorgehoben werden. Nur an wenigen Stellen erscheint der Gesamtstreicherklang gegenüber Chor und Solisten als zu stark und auch ein wenig undifferenziert. Dem stehen aber viel mehr Passagen gegenüber, die durch eine Fülle wunderschöner Einzelheiten im Orchestersatz bezaubern. Im modernen Sinfonieorchester würden sie meist zugedeckt – erneut ein überzeugendes Plädoyer des Ensembles 1800 dafür, wie wesentlich Originalklangensembles für die adäquate Wiedergabe der Musik um 1800 sind. Der Figuralchor zeigt sich strahlkräftig, sicher, abgerundet im Klang und bestens vorbereitet, nur manchmal zaghafter, als er müsste – beim Einstieg in die Fugen, die er aber sofort souverän und klar vorwärtsschreitend meistert. Lebhaft und plastisch gestaltet er seine Partien. Nur in den homophonen Partien des jüngeren Magnifikat hätte man sich bisweilen eine deutlichere Wortartikulation wünschen können. In dessen Satz „Et misericordia ejus“ gelang eine so innige, bruchlose Klangverflechtung von Chor und Instrumenten, wie sie kaum schöner vorstellbar ist. Prachtvoll auch die Solisten: Kerstin Bruns agierte klar und strahlend, in weiten Bögen souverän und klangprächtig gestaltend. Claudia Kemmerer sang den zweiten Sopran im älteren Magnificat und die Altpartie im jüngeren mild und klanglich fein abgerundet. Ein besonderes Erlebnis war wieder einmal der Neustadter Tenor Thomas Jakobs. Stimmlich ungemein wendig, ging er im „Deposuit“ der älteren und im „Quia fecit mihi magna“ der jüngeren Komposition wagemutig aufs Ganze, wollte keine Nuance der affektreichen Kompositionen unausgedeutet lassen und erreichte in völliger Übereinstimmung mit den Instrumenten eine packende, mitreißende Darstellung, die in jeder Hinsicht überzeugte. Anderseits war er ein zurückhaltend gestaltender, mit Barbara Kemmerer bestens harmonierender Duettpartner. Der Landau Bassist Philip Niederberger, der das (ältere) „Quia fecit mihi magna“, ebenfalls bestens disponiert, noch eher sachlich-klar angelegt hatte, setzte im (jüngeren) „Fecit potentiam“ ebenfalls auf dramatische Affektgestaltung und beeindruckte sehr. Zum Schluss: Herzlicher, anhaltender Applaus, und, damit das Konzert in Stille endet, der gemeinsam gesungene Schlusschoral aus der Friedemann-Bach-Kantate.

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