Neustadt Vom Sockel runter, zurück ins Leben

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Neustadt. Wo man auch hinblickt, das Phantastische boomt. In ihrem neuen Buch „Geisterroman“ greift nun auch Gabriele Weingartner dieses Trend auf – allerdings auf ihre ganz eigene Weise: Eine Berlinerin unserer Zeit begegnet hier plötzlich keinem Geringeren als Franz Kafka. Am Mittwoch stellte die Schriftstellerin den Roman in der Neustadter Stadtbücherei vor.

Die Stühle wollten dabei kaum reichen, so groß war der Andrang der Fans. Weingartner, die 1948 in Edenkoben geboren wurde, vor ihrer Übersiedlung nach Berlin im Jahr 2008 zwei Jahrzehnte lang im idyllischen St. Martin lebte und RHEINPFALZ-Lesern bis heute durch ihre zahlreichen kulturjournalistischen Beiträge sehr vertraut sein dürfte, ist als literarische Größe eben ein Begriff in Neustadt. Anders als im vor sechs Jahren erschienenen Edenkoben-Roman „Tanzstraße“ spielt die Pfalz in ihrem neuen Buch allerdings keine Rolle – auch wenn vielleicht in der Art, wie die Protagonistin Klara an ihre lieblose Kindheit und Jugend in der Nachkriegszeit zurückdenkt, manche Motive, die man von dort oder anderen Werken Weingartners her bereits kennt, gleichsam nachklingen. Im Kern freilich geht es im „Geisterroman“ nicht in erster Linie um uns und unsere Zeit, sondern mindestens genauso sehr um die, die Geistesgiganten wie Franz Kafka, Sigmund Freud, Arthur Schnitzler oder auch Franz Werfel hervorbrachte – aber auch mit unbändiger Freude am Weltuntergang in den Ersten Weltkrieg schlitterte. Denn in deren Epoche, genauer ins Kriegsjahr 1917, wird Klara zurückkatapultiert, als sie im Eurocity auf dem Weg nach Prag, wo sie die Leiche ihrer toten Schwester in Empfang nehmen soll, in einem Schneesturm stecken bleibt. „Kafka hat mich mein ganzes Leben lang fasziniert“, begründete Weingartner nach der Lesung die Wahl ihres Themas. Dabei habe sie in ihrem Buch die Idee geleitet, den Dichter von dem philosophischen Sockel, auf den man ihn lange als Symbolfigur für die Unbehaustheit des Menschen gestellt habe, zurückzuholen ins Leben. Wirklich nahe kommt die Protagonistin Klara dem Meister des Alptraums allerdings trotzdem nicht. Immerhin kann sie durchs Fernglas beobachten, dass er wohl überhaupt nicht so ätherisch-lebensabgewandt war, wie viele bis heute glauben: Denn sie sieht, wie er mit nacktem Oberkörper mit andere im Schnee herumtollt. Viel gegenwärtiger ist ihr allerdings eine andere literarische Größe der Zeit: Anton Kuh, Kaffeehausliterat und Stegreifredner, der sie auch mit seinem Quasi-Schwager, dem Psychoanalytiker und Anarchisten Otto Gross, zusammenbringt. Die Finesse, mit der Weingartner diesen Lebenskünstler und Hallodri in ihrem Buch darstellt, ist fast ebenso grandios wie die bei einer zweiten Figur, der sie viel Liebe widmet: dem Kafka-Forscher Slavomir. So bietet das Buch einen geistesgeschichtlichen Rundumschlag, der Fans der kakanischen Kultur viel Freude bereiten dürfte. Dass es davon offenbar immer noch recht viele gibt, zeigte der große Applaus der rund 50 Zuhörer am Schluss der Lesung. Lesezeichen Gabriele Weingartner: Geisterroman. Limbus-Verlag, gebunden, 254 Seiten, 20 Euro. Die nächste Lesung in der Pfalz steht am Dienstag, 22. November, 19 Uhr, in der Pfälzischen Landesbibliothek in Speyer an. Eintritt: 8/6 Euro. |hpö

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