Neustadt Höhen und Tiefen deutsch-jüdischer Geschichte

Neustadt. Die individuelle Auseinandersetzung bedeutender Schriftsteller mit dem Schreiben, ihren persönlichen Weg als Autorin und die Einbindung in das Judentum thematisiert Barbara Honigmann in ihrem eindrücklichen, 2006 erschienenen Essay-Band „Das Gesicht wiederfinden“.

Das Buch enthält acht unterschiedliche Texte: Poetikvorlesungen, Reden zu Preisverleihungen, Porträts der Schriftsteller Albert Cohen und Thomas Brasch und weitet den Blick vor allem des nichtjüdischen Lesers auf das Judentum. 300 Jahre deutsch-jüdische Geschichte umspannt die Autorin in ihrer Zürcher Poetikvorlesung von 2000, betitelt „Eine ,ganz kleine Literatur’ des Anvertrauens“. Diesen Begriff prägte Franz Kafka, um die Unmöglichkeit des Schreibens einer Minderheit in einer Mehrheitssprache zu charakterisieren, aus der eine „kleine Literatur“ hervorgehe. Als Beispiele dafür stellt Honigmann die Lebenszeugnisse dreier höchst unterschiedlicher Jüdinnen vor: die persönlichen Aufzeichnungen der kaum bekannten Glückel von Hameln im 17. Jahrhundert, die Erinnerungen Rahel Levins, verheiratete Varnhagen 100 Jahre später und Anne Franks zu den meistgelesenen Büchern der Welt gehörendes, bewegendes Tagebuch. Während Glückel sich in „Denkwürdigkeiten“ als selbstbewusste, in ihrem Glauben lebende Frau zu erkennen gab, war Rahel Levin eine Grenzgängerin, die ihre jüdische Herkunft als Schande empfand, wie Honigmann nachweist und dabei einen durchaus kritischen Blick auf Assimilation und Aufklärung wirft. Da sie sich nach Zugehörigkeit sehnte, schuf Rahel mit ihrem berühmt gewordenen Berliner Salon einen Ort des freien Gedankenaustausches über die Grenzen von Religion und Standeszugehörigkeit hinaus. Ihre Taufe verstand sie nicht als Entreebillet in die deutsche Gesellschaft, sondern als Ausdruck der Hoffnung auf Dazugehörigkeit. Diese Hoffnung wurde unter Hitlers NS-Herrschaft, in der die scheinbar aufgeklärte moderne Welt zu einer mörderischen Macht mutierte, im Keim erstickt. Das verstörende Tagebuch der Anne Frank versteht Honigmann als beispielhafte „kleine Literatur des Anvertrauens“, als Zeugnis der Intensität und Intimität in einer Endzeit der deutsch-jüdischen Geschichte. Das Tagebuch einer weiteren Zeitzeugin, der niederländischen Slawistin Etty Hillesum, die anders als Anne Frank hierzulande kaum bekannt ist, hebt Honigmann aus der Vielfalt der Opferliteratur hervor. Der sie umgebenden Barbarei setzte Hillesum schreibend einen humanistischen Aspekt entgegen, sie appellierte an sich selbst, das drohende „Massenschicksal“ zu ertragen und fand Kraft im jüdischen Glauben. Hochinteressant ist Honigmanns Vorlesung über biografisches Schreiben, in der sie sich mit dem „Doppelleben“ der Anna O., der berühmt gewordenen Hysterie-Patientin von Sigmund Freud und Josef Breuer, auseinandersetzt. Ihr ist übrigens die „talking cure“, die befreiende Methode des erinnernden Aufarbeitens traumatischer Erlebnisse, zu verdanken. Ihr wahrer Name war Bertha Pappenheim, nach ihrer Therapie wurde sie unter anderem Sozialarbeiterin und Feministin. Am Rande ihrer Reden und Betrachtungen lässt Honigmann auch ihren persönlichen Werdegang einfließen. Die 1949 in Ostberlin geborene Tochter jüdischer Eltern, die den Holocaust im britischen Exil überlebten und nach ihrer Rückkehr am Aufbau eines „neuen Deutschland“ mitarbeiteten, erfuhr 1976 einen „Schöpfungsschub“, wie sie es ausdrückt. Als Dramaturgin bearbeitete sie das Grimm’sche Märchen „Das singenden, springende Löweneckerchen“ für das Theater, sie überwand die „Leere und Fremdbestimmung“, auf die ihre jüdische Herkunft reduziert war, indem sie der jüdischen Gemeinde Ostberlins beitrat – und sie wurde schwanger. 1984 verließ sie die DDR und lebt seitdem mit ihrem Mann und den beiden Söhnen in Straßburg. Der Titel ihres Buches bezieht sich übrigens auf ihre Rede zur Verleihung des Jeanette-Schocken-Preises in Bremerhaven 2001, „Das Gesicht wiederfinden“. Diese Bremerhavener Jüdin, die ins Ghetto von Minsk deportiert und dort ermordet wurde, hatte ihr schweres Schicksal nicht resignierend, sondern aus religiöser Überzeugung angenommen. Von ihr ist nur ein Foto erhalten, das ihr Gesicht zeigt. Im weiteren Verlauf des Textes zitiert Honigmann den aus Litauen stammenden französisch-jüdischen Schriftsteller Emmanuel Levinas, der sagte: „Die Kunst besteht darin, das Gesicht wiederzufinden.“ Und das ist eine der Kernaussagen dieses Bandes: die eigene Identität nach den Schrecken der Verfolgung zu finden. Besonders für die „Nachgeborenen“ ist es ein lesenswertes Buch, das einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis der jüdischen Welt leistet. Lesezeichen Barbara Honigmann: „Das Gesicht wiederfinden – Über Schreiben, Schriftsteller und Judentum“. Gebunden, 295 Seiten, 16,90 Euro, Carl Hanser Verlag, München.

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