Neustadt „ Nur – einen – Glühwein …“

„Verfluchte Sch… pro Meter“ ist die Maßeinheit, mit der sich Anne Vogd durch das adventliche Gedrängel in ihrer Heimatstadt schi
»Verfluchte Sch… pro Meter« ist die Maßeinheit, mit der sich Anne Vogd durch das adventliche Gedrängel in ihrer Heimatstadt schiebt.

Wir befinden uns jetzt im Wartezimmer vor der Weihnacht. Es ist nass-kalt. Der Nieselregen nervt. Alle laufen geduckt herum, als ob man dadurch später nass würde. Gänsehaut war gestern. Meine Haut sieht heute aus wie die Rückwand in meiner Lieblingspizzeria – mit venezianischer Spachteltechnik in 3D. Das durchschnittliche „In diesem Jahr schenken wir uns nichts“ liegt jetzt schon bei 119 Euro, seit ich gestern in Neustadt einen Superpulli für meinen Mann „geschossen“ habe. Es ist Freitagnachmittag und meine Freundin fragt: „Wollen wir heut Abend auf den Deidesheimer Weihnachtsmarkt gehen? Heute ist genau das richtige Wetter dafür.“ Mein erster Gedanke: Das werden hunderttausend Mannheimer, Ludwigshafener, Wormser und Heidelberger auch denken. Daher meine spontane Antwort: „Oh nein, was habe ich Dir getan?“ Sie antwortet unverzüglich mit den drei größten Weihnachtsmarktlügen:„ Nur – einen – Glühwein …“ Eigentlich trinke ich gerne Wein. Würden Nachnamen den jeweiligen Vorlieben angepasst, wäre ich eine geborene Dornfelder, eingeheiratete Weißherbst. Wein trinken macht in einem Alter, in dem man überall im Haus Brillen deponiert, ja auch Sinn: Möhren verbessern die Sehkraft, Wein verdoppelt sie … Und der Glühwein am Kolpingstand schmeckt ja auch besonders gut. Nicht wie manch Großstadt-Glühwein, der nur auf den ersten Blick einer ist, labortechnisch gesehen jedoch an Körperverletzung grenzt – wegen Verätzungsgefahr. Letztes Jahr kam ich in Köln in Kontakt mit einer solchen Flüssigkeit. Schon beim Geruch dachte ich spontan an etwas zum Einreiben. Aber das mag auch an meinem Alter liegen. Die äußerliche Anwendung übernimmt dann auch alle Jahre wieder irgendein Depp, indem er mich mit einem Becher kochend heißen Glühweins auf den Namen „Oh-sorry-war-keine-Absicht“ tauft. Das unfassbare Geschiebe und Gedrängel auf dem Stadtplatz nervt. Mittlerweile ist der Deidesheimer Weihnachtsmarkt ja sogar ein Highlight für unsere holländischen Nachbarn geworden. Ab nachmittags reihen sich am Bahnhof große Busse mit Nummernschildern in Tulpen-Gelb mit Delfter-Blau aneinander. Es wird also immer voller. Besonders lang ist die Schlange vor dem Toilettenwagen. Vor dem „H“ für Holländer stehen schon viele, aber vor dem „D“ für Deutsche noch mehr. Alle sind genervt. Ich brauche also Nervennahrung und bahne mir den Weg zum Lebkuchenstand. Schwierig genug. Meine persönliche Maßeinheit „Verfluchte Sch… pro Meter“ dient auch den umstehenden Besuchern als Hinweis darauf, wie sau-glatt das nasse Kopfsteinpflaster am Andreas-Brunnen sein kann. Aber die Perspektive zählt. Wenn man mich fragt: „Möchtest Du eine Tüte Mandeln, einen Lebkuchen oder einen Paradiesapfel?“, antworte ich immer mit einem schlichten „Ja“. Auch wenn für Letztgenannten mancherorts schon 2 Euro verlangt werden – aber vermutlich ist auf dem Stil Pfand. Nein, ich gebe diesen Kalorien gerne ein Zuhause – vor allem den Trüffelkugeln vom Winzerverein, für mich eine Art Notfall-Globuli im Gedrängel. Wenn ich in einer solchen Bude arbeiten würde, wäre ich innerhalb von zwei Stunden obdachlos. Die Kolumne Die Deidesheimerin Anne Vogd stieg 2016 aus der Textilbranche aus und in die Comedy ein. In der Rubrik „Annes Welt“ veröffentlichen wir regelmäßig, was der 53-Jährigen so durch den Kopf geht.

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