Neustadt Großes Kino

«Neustadt-Mussbach.» Der dritte Abend der dem Genre Kunstlied gewidmeten Winterstaffel im von der Stiftskantorei konzipierten Konzertreigen des Mußbacher Herrenhofs führte am Sonntag mit der Mezzosopranistin Judith Rautenberg und der Pianistin Christine Rahn zwei junge Künstlerinnen in die Parkvilla, die der Region entstammen, diese künstlerisch freilich längst überflügelt haben. Die mottogebenden „Beziehungs-Weisen“ führten diesmal nach Deutschland und Britannien. Und verwöhnten mit lyrischer Gourmetkost und eindrucksvollen Interpretationen.

Erst in der Nachkriegszeit des letzten Jahrhunderts brachen weibliche Protagonisten in die bis dato typischen Männerdomänen der Lied-Literatur ein. Christa Ludwig etwa, auch Mentorin von Judith Rautenberg, spielte Schuberts „Winterreise“ als erste Altistin überhaupt auf Tonträger ein. Megastar Jessye Norman wiederum behauptete sich in den 80ern einsam mit Robert Schumanns „Liederkreis“ op. 39 nach Gedichten von Eichendorff – zwischen unzähligen Tenor- und Bariton-Aufnahmen. Über die Genderprofile in den Liebes- und Weltschmerz-Gedichten, die Schumann in privat stürmischen Zeiten aus den Eichendorff-Konvoluten gewählt und zu einem zweiteiligen Zyklus von je sechs Poemen vertont hatte, ließe sich an anderer Stelle trefflich debattieren. Sei’s drum: Judith Rautenberg jedenfalls machte mit ihrer hellwachen, klaren Diktion, ihrer wunderbar sorgfältigen Textbehandlung und vor allem ihrem schönen, bruchlos ebenmäßig geführten Sopran Sophistereien solcher Art schlicht überflüssig. Ihr vollmundig gerundeter, leicht abgedunkelter Mezzo und ihre energische, dabei subtile und äußerst wandelbare Tongebung entschlüsselten den Schumann’schen Liedkosmos auf ganz nahbare Weise. Es waren die intimen, die piano-gehauchten Schwingungen, wie etwa in der „Mondnacht“, die düster vibrierende Mystik im „Zwielicht“, aber auch die vehement aufblühenden Höhenregister, die an Rautenbergs Interpretation fesselten. Und es war natürlich auch das völlig organische Verschmelzen mit dem Alter Ego am Flügel, der brillant sekundierenden Christine Rahn, in deren eloquentem, technisch lupenreinem Part sich die Singstimme komfortabel eingebettet, gespiegelt oder auch geistreich herausgefordert und hinterfragt fand. Umrahmt waren die beiden Teile des Schumann-Zyklus durch jeweils drei der hintergründig existenzphilosophischen „Hölderlin-Fragmente“, die Benjamin Britten 1958 für hohe Singstimme und versehen mit einem äußerst raffinierten, sich zuweilen keck emanzipierenden Klavierpart komponierte. Vom 1959 geborenen Briten Jonathan Dove stammte das Stück, das als Mittelachse zwischen beiden Zyklen einen ganz eigenen Ton anstimmte: „My love ist mine“, eine A-cappella-Vertonung des biblischen Hoheliedes von eigentümlichem Reiz, eine gleichzeitig schlichte wie überbordend jubelnde Stimmstudie und von der Solistin mit ungemein nuancenreichem Melos als fesselndes Kabinettstück zelebriert. Dritter im Bunde der Barden britischer Provenienz war Ralph Vaughn Williams. Sein neunteiliger Zyklus „Songs of travel“, dessen Gedichte einer Sammlung von Robert Louis Stevenson, dem Autor der „Schatzinsel“, entstammen, ist eine Art poetisches Road-Movie auf Schusters Rappen, ein Wander-Epos à la „Winterreise“, nur längst nicht so düster und hoffnungsleer. Während die Singstimme in kraftvollen Melodienfolgen schwelgt, springt im pianistischen Unterbau ein figurales Blütenmeer nach dem anderen auf; vagabundieren die Klangkaskaden ungestüm, schwärmerisch bis melancholisch, melodramatisch, nicht selten hymnisch, zuweilen anrührend versonnen. Mit einem Wort: ganz großes Kino, was Rautenberg und Rahn da in engstem Dialog mit leidenschaftlichem Gestus und bestechender musikalischer Rhetorik in Klang übersetzten. Für den großen und verdienten Beifall bedankten sich die beiden Solistinnen mit der „Widmung“ von Robert Schumann als Zugabe.

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