Ludwigshafen „Religion war in der Moschee und fertig“

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Die Lesung von Massum Faryar auf dem Mannheimer Museumsschiff war ein Heimspiel. Die auch in Ludwigshafen stattfindende Lesereihe „Europa/Morgen/Land“ hat den gebürtigen Afghanen, der 1982 in Heidelberg gestrandet war, literarisch entdeckt.

Bei einem von der Lesereihe für auf deutsch schreibende Autoren mit ausländischen Wurzeln im Jahre 2005 ausgeschriebenen Kurzgeschichtenwettbewerb erhielt Massum Faryars Beitrag „Der Rucksack“ den Preis von „KulturQuer QuerKultur“. Der Verein zählt zu den Mannheimer Ausrichtern der Lesereihe. Die Bewertung der Jury lautete damals: „Beklemmend aktuell, erzählerisch versiert und für einen breiten Leserkreis spannend und zugleich informativ“. Diese Einschätzung kann auch für Faryars in diesem Jahr bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen ersten Roman „Buskaschi oder der Teppich meiner Mutter“ gelten. Das Buch ist 650 Seiten dick und erzählt die Geschichte Afghanistans von 1919 bis 2008 in der Form einer Familienchronik. Massum Faryar wurde 1959 in der 3000 Jahre alten Kulturstadt Herat in einer großbürgerlichen Kaufmannsfamilie geboren. „Für meine Generation war Religion in der Moschee und fertig“, sagte er. „Der einzige Islamist, den ich kannte, war ein Lehrer. Er wurde mit Tomaten beworfen.“ Mit 23 Jahren kam Faryar nach Deutschland. Ohne je einen Sprachkurs besucht zu haben, wurde er so fit in Deutsch, dass er Germanistik studierte und sogar promovierte. Heute lebt er in Berlin als Übersetzer und Autor. Der Roman ist autobiografisch geprägt. Der Held Schaer ist schon als kleiner Junge ein Dichter. In der Lesung war er als Siebenjähriger zu erleben. Das Buch beginnt damit, dass er aus dem „Garten Eden“ vertrieben wird, als er ihn gerade erst entdeckt hat. Er musste, wie gewohnt, seine Mutter ins Hammam begleiten und landet in der Kabine der schönen Frau des hässlichen unsympathischen Mühlenbetreibers. Obwohl alles ganz harmlos und unschuldig ist, muss er fortan mit dem Vater ins Hammam gehen. Der gesteht ihm, dass die Frau des Mühlenbetreibers auch in seinen Träumen vorkommt. Er erzählt dem Jungen „seine Geschichte, die er in schöne Worte ud lebendige Bilder fasste.“ Für deutsche Ohren hört sich das märchenhaft orientalisch an. In einer zweiten Leseprobe begegnet uns Schaer in Begleitung seines älteren Bruders, der mit dem Fahrradhändler über Sozialismus diskutiert. Das kommt uns viel näher vor, obgleich es im Kern wohl ebenso fern ist. Massum Faryar ist ein poeta doctus; nach den Regeln der Literaturwissenschaft erklärt er, wie er schreibt. Sieben längere Kapitel, „Bücher“ genannt. Zwei davon erzählen die Geschichte des Vaters, der ein Held des afghanischen Reiterspiels Buskaschi war. Rahmengeschichte und Binnengeschichte. Er spricht von Erzählebenen und Symbolen. Das Hammam ist eine doppelte Allegorie auf den Garten Eden und auf das Land Afghanistan. Der Teppich seiner Mutter, der ihr Verlobungsgeschenk war, ist ein Symbol. Das „Herz des Geschehens“, der „Kern“ des Buchs, an dem er achteinhalb Jahre lang „mehr oder weniger im Schlaf“ geschrieben hat, ist das Land, „das so verloren ist“. Am Schluss besucht der Sohn aus Deutschland die Mutter in Afghanistan, aber sie ist dement und erkennt ihn nicht. Massum Faryar spricht mit einem starken Akzent in anspruchsvoll strukturierten Sätzen, wie sie auch seinen Schreibstil kennzeichnen. Der Sprachduktus ist deutsch, die Sprachmelodie kommt aus einer anderen literarischen Kultur. Sein Buch sei zehn Jahre zu spät gekommen, beklagte er in Mannheim. „Wir leben in einer Zeit, die verrückter nicht sein kann. Afghanistan ist weit weg.“ Die Resonanz auf sein Buch war geringer als erhofft. Objektiv war sie für hiesige Verhältnisse recht gut. Trotz harscher Kritik am Literaturbetrieb, glaubt Massum Faryar an die moralische Kraft der Literatur.

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