Ludwigshafen Nur ein paar Flügelschläge

Edeltraut und Karl Heinz Henrich wohnen am Berliner Platz. Wenn sie aus dem Fenster sehen, haben sie die „Tortenschachtel“ im Blick. Das 1960 fertiggestellte Gebäude war für sie schon immer da. Dass es bald nicht mehr sein wird, erfüllt das Ehepaar aber nicht mit Wehmut.

Von da oben macht der Berliner Platz durchaus was her. Die imposante „Tortenschachtel“, der man nicht ansieht, dass sie leersteht, das lebhafte Hin und Her an der Straßenbahn- und Bushaltestelle, die Ausfallstraße im südlichen Bereich, auf der der öffentliche Nahverkehr in die Mundenheimer, die Bleichstraße und nach Mannheim führt – all das sieht gut aus. Man ertappt sich bei dem Gedanken, dass man derlei in Ludwigshafen gar nicht vermutet. „Da oben“, das ist im dritten Stock bei den Henrichs. Edeltraut und Karl Heinz Henrich wohnen seit 39 Jahren in der Drei-Zimmer-Wohnung: in dem halbrunden Gebäude, das den Berliner Platz zum Rhein hin abgrenzt, wo im Erdgeschoss Lokale untergebracht sind, wo die Ludwigstraße beginnt. Dass die Wohnung nicht rechteckig ist, fällt erst auf, wenn Edeltraut Henrich die unterschiedlich langen Querwände zeigt und sagt, dass sie schwer zu tapezieren seien. Da wird klar, dass das dominante Halbrund des Platzes nicht immer von Vorteil sein muss – so schön es auch aussieht und so sehr man den Architekten Respekt zollen mag, weil sie, nicht zuletzt bei dem vor zehn Jahren errichteten Faktor-Haus, den Kreisausschnitt als Grundelement ihrer Planung gewählt haben. Und jetzt: Alles vergeblich? Nein, Karl Heinz Henrich trauert der 54 Jahre alten „Tortenschachtel“ nicht nach. „Wenn man doch nichts mehr damit anfangen kann, gehört sie eben abgerissen.“ Erhöhen könne man das Gebäude wohl aus statischen Gründen nicht, und eine sinnvolle Nutzung scheine auch nicht infrage zu kommen, überlegt der 70-Jährige. Sogar dafür, dass ein Neubau nicht unbedingt rund sein muss, weil Leute, die hier Geschäfte eröffnen möchten, das als unpraktisch ansehen, zeigt der Ludwigshafener Verständnis – aus eigener Erfahrung. „Na ja, ein paar halbrunde Elemente ...“ Darüber könne man reden. Kennengelernt haben sich Traudel und Karl Heinz Henrich, auch heute noch ein harmonisch wirkendes Paar, bei der TSG Friesenheim, fünf Jahre nachdem die „Tortenschachtel“ fertig war. Er hat dort geturnt, danach Prellball gespielt, war in der Kategorie „Ü 30“ mit seinem Team in Pirmasens gar Deutscher Meister. Übertroffen wurde das Glücksgefühl dieses Erfolges nur von einer Tanzveranstaltung am Faschingsdienstag 1965. Bei dieser ersten Begegnung habe er Traudel „immer uff die Fieß“ getreten, wie sie lachend erzählt. Danach verging etwas Zeit, doch alsbald ließ Karl Heinz, der in Wetzlar beim Bund war, über einen Kumpel ausrichten, dass er zum Tanz in den Mai kommen würde. Das habe auch geklappt, doch Traudel habe ihn nicht erkannt. „Wegen der Glatze“. Dabei sei das nicht die Glatze gewesen, die heute seinen Kopf „schmücke“, sondern das Ergebnis „einer verrückten Idee“. Einer der Kameraden in der Kaserne habe sich kahlscheren lassen, „und das ging dann reihum“, erzählt Henrich in seiner ruhigen, humorvollen Art. Deshalb sei er in Uniform angereist, „da konnte ich meine Glatze unter der Mütze verstecken“. Sportliche Betätigung ist ihnen auch heute noch wichtig, versichern beide. Er geht dienstags zur Männergymnastik, verrät der Teetrinker – „schwarz, ohne Milch, gut zehn Minuten ziehen lassen“. Traudel, die lange Jahre in den RHEINPFALZ-Geschäftsstellen Ludwigshafen und Frankenthal gearbeitet und vor acht Jahren aufgehört hat, ist montags in der Rückenschule. Und beide kegeln alle vier Wochen. Zudem habe sie einen Englischkurs belegt, verrät die quirlige 65-Jährige: „Da geh’ ich so lange hin, bis der Lehrer Pfälzisch kann.“ In der gemütlichen Wohnung hängen Bilder, die von Karl Heinz Henrich, von Beruf Maler und Lackierer, stammen. In Wohnzimmer und Flur sind etliche Eulen ausgestellt, meist kleine Figuren aus unterschiedlichen Materialien, sogar eine aus Athen und Harry Potters Schnee-Eule Hedwig. Von deren Sitzplatz ist die „Tortenschachtel“ nur ein paar Flügelschläge entfernt. Im Innern des alten Gebäudes ließe es sich wunderbar nisten. Aber nicht mehr lange. Herrchen und Frauchen machen sich bereits Gedanken über Abrisslärm und -staub. Als Anwohner hoffen sie, zum Richtfest des Neubaus geladen zu werden. Bisher war das zweimal der Fall: bei der Hypovereinsbank, die zwischen ihrem Wohnblock und dem Rhein liegt, und beim Faktor-Haus im November 2004. Bis zur Einweihung des neuen Baus werden die Henrichs ihre unterschiedlich langen Wände wohl noch einmal tapezieren müssen.

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