Ludwigshafen Grenzerfahrungen

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Am 9. November 1989 ist die Mauer gefallen. Der Anfang vom Ende der DDR und der Beginn der Wiedervereinigung Deutschlands. Jeder hat seine eigenen Erinnerung an die Tage der Wende: Massendemonstrationen auf dem Alexanderplatz in Ostberlin, eine groteske Party in Moskau und eine unvergessliche Nacht am deutsch-deutschen Grenzübergang. RHEINPFALZ-Journalisten schildern ihre Erlebnisse.

Go Trabbi go.Die Mauer fiel an einem Donnerstag. Ich kam an jenem Abend nach einer Bandprobe in Friesenheim gegen 22 Uhr nach Hause – das war damals eine Studenten-Wohngemeinschaft mit einem Kumpel in Oppau. Der saß vorm Fernseher und schaute „Tagesthemen“. „Du, da passiert gerade was“, sagte er. Wir verfolgten gebannt die Nachrichten. Irgendwann war klar, dass in dieser Nacht die Mauer fallen könnte. Für uns war klar: Nicht ohne uns. Wir holten eine Freundin ab, tankten den alten Ford Escort meines Kumpels voll und fuhren los. Unser Ziel: der Grenzübergang Herleshausen bei Bad Hersfeld in Hessen. Wir wollten live ein Stück Weltgeschichte miterleben.Mitten in der Nacht kamen wir an. Wir waren die einzigen Menschen auf der Westseite. Es war eiskalt, der Boden gefroren, die Straßen waren glatt. Die Männer vom Bundesgrenzschutz hatten keine Ahnung, was passieren würde. „Wir wissen nur: Da drüben tut sich was“, sagte einer. Wir gingen in eine Raststätte, um uns aufzuwärmen, da trafen schon die ersten Kamerateams ein. Die Reporter des Hessischen Rundfunks dachten, dass wir die ersten „Ossis“ seien, die „rübergemacht“ hätten. Wir mussten sie enttäuschen. Doch irgendwann kamen sie dann: die DDR-Bürger. Knatternde Motoren kündigten die Trabbis an. Parkplatz und Raststätte füllten sich schnell. Unsere „Brüder und Schwestern aus dem Osten“ erlebten den Kapitalismus gleich hautnah. Ohne D-Mark gab’s nichts zu essen oder zu trinken. An unseren Tisch hatte sich ein junger Kerl aus Erfurt gesetzt. Ronny hatte blaugefrorene Hände, denn er war mit einem klapprigen MZ-Motorrad durch die Nacht gefahren. Wir spendierten ihm einen Kaffee und eine heiße Suppe. „Ich bleibe hier“, sagte er. Er hatte Angst, dass die Grenze nur diese eine Nacht offen bleiben würde. Er war davon überzeugt, das DDR-Regime würde im Sattel bleiben. „Ich kann gut schrauben. Dahinten ist eine Tankstelle, da frage ich nachher wegen Arbeit“, sagte er. „Du brauchst erst mal Papiere, einen neuen Ausweis und so“, erklärten wir ihm. Ronny war ratlos, wie’s weitergehen sollte. Wir boten an, ihn nach Friedberg in ein Auffanglager für DDR-Flüchtlinge zu bringen, das wir aus den Nachrichten kannten. Ein junges Ost-Pärchen, das West-Verwandte in Gießen besuchen wollte, schloss sich uns für einen Teil des Wegs an. Sie hatten keine Autokarten für den Westen. Die beiden wollten im Gegensatz zu Ronny wieder nach Hause. „Das ist unsere Heimat“, sagten sie. Wir fuhren im Konvoi und tauschten auch mal die Autos. Ronny bretterte vorweg. Für uns war der blaue Wartburg eine Attraktion, für die beiden anderen war es unser orangefarbener Escort. Als die Sonne aufging, waren viele Ostautos auf der Autobahn Richtung Westen unterwegs. Der ganze Gegenverkehr hupte, winkte oder blinkte. Es herrschte eine ausgelassene Stimmung, als wir uns von dem Paar trennten. Vormittags kamen wir im Lager Friedberg an. Meine Freunde begleiteten Ronny zum Empfang. Ich wartete. Die Bäume vor dem Lager waren mit Flugblättern regelrecht tapeziert. Stellenangebote. Ich studierte interessiert die Jobbörse, als mich ein Mann ansprach. „Können Sie schweißen?“ Ich verneinte. „Kennen Sie einen Schlosser im Lager?“ Ich klärte das Missverständnis auf. Er ließ mich einfach stehen und fragte den nächsten. Hier wurden vom Fleck weg Tagelöhner engagiert. Den Lohn bekam man auf einem Kofferraum ausbezahlt. Meine Freunde kehrten schließlich aus dem Lager zurück und wir fuhren heim nach Ludwigshafen, gegen 16 Uhr waren wir wieder hier und hauten uns hundemüde aufs Ohr. Was wohl aus Ronny geworden ist? Ich hoffe, er hat seinen Weg gemacht – im geeinten Deutschland. Michael Schmid, 47, ist stellvertretender Redaktionsleiter Rüber zu den Verwandten.Der 9. November wird mir ewig im Gedächtnis bleiben. Wir wohnten in Frankfurt/Oder in einem Plattenbau. Ich war 14. Mein jüngerer Bruder und ich lagen schon lange im Bett, als plötzlich unser Vater ins Kinderzimmer stürmte. Er klatschte vor Freude in die Hände, holte uns aus den Betten und sagte: „Morgen fahren wir rüber in den Westen, morgen besuchen wir Tante Waltraud und Onkel Horst.“ Er war überglücklich, umarmte uns. Aus dem Schlaf gerissen, meckerte ich: „Was soll das? Hast Du zu viel getrunken?“ „Nein“, meinte er und lachte: „Die Grenzen sind offen.“ Nach und nach begriff ich.Der Umbruch war seit den Sommerferien zu spüren. Man hörte von DDR-Bürgern, die in Ungarn und Tschechien über die Grenzen geflüchtet waren, von Demos. Und schließlich Genschers Rede in der Prager Botschaft ein paar Tage zuvor. Meine Lehrerin, eine tiefrote SED-Socke, war plötzlich aus der Partei ausgetreten. Sie, die uns jahrelang mit ihrem parteitreuen Geschwätz über den antifaschistischen Schutzwall gequält hatte. Die Frau, für die Westler gefährliche Kapitalisten waren, vor denen das kommunistische Paradies geschützt werden musste. Menschen wie meine Tante und mein Onkel, die wir nur alle paar Jahre sehen durften – wenn einer aus der Familie einen runden Geburtstag feierte oder jemand gestorben war. Und jetzt sollten wir sie einfach so besuchen können? Ich machte nachts kaum ein Auge zu. Mama packte ein paar Sachen ein. Endgültig „rübermachen“ wollten meine Eltern aber nicht. Mein Vater ging am nächsten Tag brav zur Arbeit und wir in die Schule. Dort fehlten schon ein paar Jungs und Mädels. Nachmittags holte Papa bei der Stadtverwaltung ein Visum, damit wir „offiziell“ in den Westen reisen durften. Schnell noch zur Tankstelle. Und am frühen Abend ging’s los – Richtung Westen. Schon bei Magdeburg stauten sich auf der Autobahn Massen von Trabbis, Ladas und Wartburgs bis zum Grenzübergang in Helmstedt. Es ging nicht mehr vor und zurück – Umkehr unmöglich. Gegen Mitternacht erreichten wir endlich den Grenzposten. Meine Eltern waren angespannt, die Soldaten furchteinflößend. Im Schritttempo passierten wir dann die gigantische und taghell erleuchtete Grenzanlage mit unendlich langen Stahlzäunen sowie etlichen Wachtürmen. Jetzt hatte ich ein wenig Angst. Doch der Westen war in Sichtweite: Hinter der Grenze standen Menschen, jubelten und schlugen mit ihren Händen auf die Autodächer und Motorhauben. Das machte nun wieder meinem kleinen Bruder Angst, er weinte herzzerreißend. An der Raststätte wollten meine Eltern unsere Spontan-Besuch ankündigen, doch wie telefonieren ohne harte Westmark? Ein „Wessi“, ebenso glücksselig von den Ereignissen, half aus und steckte meiner Mutter noch 50 Mark zu. Unser erstes Begrüßungsgeld. Wir fuhren weiter. Ich erinnere mich an die bunten Lichter der Städte, die riesigen, angeleuchteten Werbeplakate und das Hupen der Autos, sobald sie unseren grünen Lada sahen. Erst gegen 4 Uhr kamen wir in Niederzier bei Düren an. Wir waren hundemüde, saßen aber noch lange am Esszimmertisch. Keiner konnte schlafen. So viele Gedanken schossen durch den Kopf: Wie wird’s weitergehen? Bleiben die Grenzen auf? Alles war ungewiss. Zwei Monate später haben wir dann doch „rübergemacht“, ganz offiziell mit einem Ausreiseantrag. Die DDR löste sich langsam auf und keiner von uns weinte diesem politischen Gebilde eine Träne nach. Doreen Reber, 39, ist Redakteurin in der Landkreis-Redaktion Mit Oma Nörgel durch Ost-Berlin„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, soll ein gewisser Michail Sergejewitsch Gorbatschow mal gesagt haben. Und wer zu früh kommt, der verpasst die Wiedervereinigung. Sage ich. Denn so erging’s mir. In den aufwühlenden Tagen des Mauerfalls war ich nämlich nicht in Berlin. Aber immerhin in der vorentscheidenden Woche – ging nicht anders, denn damals leistete ich meinen Zivildienst in einer Reha-Klinik ab, im Schichtbetrieb: sieben Tage Arbeit, sieben frei. Letztere nutzte ich Anfang November 1989, um mit der Bahn in die geteilte Stadt zu reisen, der zu dieser Zeit die ungeteilte Aufmerksamkeit der Welt gehörte. Am Kudamm ergatterte ich für 35 Mark die Nacht ein Zimmer in einer angestaubten Pension, in der viele Monteure hausten. Das Bett war unbequem, aber der Kaffee, den die betagte Hausherrin morgens servierte, war stark. Sehr stark – und machte glockenwach. „Da kiekste, wat?“, frotzelte die alte Dame gerne. Mit Koffein vollgepumpt ließ ich mich durch Berlin treiben, bis ich am Brandenburger Tor landete, wo die bewaffneten DDR-Grenzer in Habachtstellung auf der Mauer standen, an der bereits munter gehämmert wurde. Natürlich musste ich rüber zu den Demos, zum Alexanderplatz, wo Tausende Menschen versammelt und mit Plakaten der Marke „Honecker, lass die Hosen runter“ bewaffnet waren. Während Schriftsteller Stefan Heym sprach, nörgelte neben mir eine Seniorin mit Fellmütze pausenlos „an der BRD“ und „den Kapitalisten“ herum. Bis mir ihr Gemotze zu viel wurde und ich sie zur Rede stellte. Als sie merkte, dass ich ein „Wessi“ bin, lud sie mich spontan zur Trabbi-Tour „durch den schönen Osten“ ein. Und zum Essen – mit allem, was dazugehört: Schlangestehen und nicht genau wissen, was sich unter der Panade des Schnitzels tatsächlich verbirgt. Die Fahrt ging weiter und sie dozierte: „Kiek mal hier, kiek mal da“ und ganz viel Nostalgie-Tralala. Kurz: Hier war alles gut, drüben alles schlecht. Am Ende prophezeite sie mir, dass das mit der Einheit nichts wird, weil „die zwei Deutschlands“ nicht zusammenpassen. „Wern se schon sehn, junger Mann.“ Fünf Tage später wurde Geschichte (um)geschrieben. Steffen Gierescher, 45, ist Leiter der Lokalredaktion Ein letztes Mal durch die DDRIm Herbst 1989 studierte ich für einige Monate in Moskau. Nicht etwa an der berühmten MGU, der im stalinistischen Zuckerbäckerstil erbauten Moskauer Universität. Die war nur für besonders verdiente Studierende der Sowjet-Republiken zugänglich. Die einzige Studien-Möglichkeit für Europäer war eine Einrichtung mit dem klangvollen Namen „Staatliches Alexander-Sergejewitsch-Puschkin-Institut für russische Sprache“. Es war die Zeit von Gorbatschows Glasnost und Perestroika. Lebensmittel waren knapp, Obst und Gemüse Mangelware, Zucker nur auf Lebensmittelmarken erhältlich. Es gab keine West-Zeitungen. Von Handy, Internet oder E-Mail wussten wir damals noch nichts. Einmal in der Woche brachte ein Botschaftskurier Briefe aus der Heimat. Mein einziger Kontakt zur Außenwelt und „großen“ Politik war ein kleiner Weltempfänger. Diesen ans Ohr gedrückt, saß ich allabendlich auf meinem Bett im Wohnheim und lauschte über Kurzwelle den kaum zu verstehenden Berichten über die Ereignisse in Ungarn, der Prager Botschaft und den Montagsdemos in Leipzig.Am 7. Oktober lud die Delegation der DDR-Studenten im Puschkin-Institut alle Kommilitonen zu einem Fest in die Aula ein. Gefeiert wurde der 40. Jahrestag der Staatsgründung der DDR. Reden, Gedicht- und Lieder, Volkstänze, Lichtbilder aus der Heimat. Da ahnte noch niemand, dass die DDR bald Geschichte sein würde. Doch bevor es so weit sein sollte, trat ich wenige Tage vor dem 9. November die Rückreise an. Mit dem Paris-Moskau-Express ging es in fast 40 Stunden zurück nach Westdeutschland. Nachdem der Zug in Brest-Litowsk während eines mehrstündigen Aufenthalts von der russischen auf die europäische Spurweite umgesetzt worden war, kam meine letzte Begegnung mit den DDR-Grenzbeamten in ihren grünen Uniformen. Auf ihren „Bauchläden“ wurden die Dokumente penibel kontrolliert und gestempelt. Dies durfte ich gleich viermal erleben: bei der Einreise von Polen in die DDR, am Grenzübergang zwischen Ost- und West-Berlin, bei der Ausreise aus West-Berlin in die DDR und der Ausreise in Helmstedt. Mitten in der Nacht rissen sie die Passagiere mit ihrem „Die Pässe bitte“ aus dem Schlaf. Am 9. November war ich längst wieder zu Hause und saß zunächst ungläubig vor dem Fernseher. Dass die Mauer einmal fallen würde, habe ich nicht für möglich gehalten. Anette Konrad, 48, ist freie Journalistin Laufen verbindetAls am späten Abend des 9. November 1989 die ersten Menschen in Berlin den Grenzübergang Bornholmer Straße passierten, freute ich mich ungemein, dass die DDR die Tore in Richtung Westen öffnete. Sechs Wochen zuvor stand ich an der Mauer, einen Steinwurf vorm Brandenburger Tor entfernt. Ich war als freiwilliger Helfer (Volunteer) beim 16. Berlin-Marathon dabei. Da war in der geteilten Stadt schon eine Umbruchstimmung zu spüren. „Wann wird der Marathon erstmals durch die ganze Stadt gehen?“, erinnere ich mich noch an Gespräche mit Lauffreunden, denen ich als Helfer ihre Starterbeutel übergab. Botschaftsflüchtlinge, Massendemonstrationen – das alles hat uns beschäftigt. Wie groß das Bedürfnis der DDR-Bürger nach Reisefreiheit war, hatte ich von einem Brieffreund aus Ostdeutschland erfahren, mit dem ich auch meine Leidenschaft fürs Laufen teilte. Ich hatte mich für den Marathon bei meinen Cousin einquartiert, der in West-Berlin Elektrotechnik studierte. Von dessen Wohnung war die Mauer zu sehen und der Todesstreifen. Ich fragte mich, ob diese Grenze jemals verschwinden würde? Dass die Mauer sechs Wochen später fallen würde, konnte ich nicht ahnen. Da war ich schon wieder in der Pfalz. Aber ein Jahr später war ich zurück in Berlin. Wieder zum Marathon. Diesmal war ich selbst am Start. Die Einheit war noch nicht offiziell vollzogen. Der Lauf ging zum ersten Mal durchs Brandenburger Tor und einige Ost-Bezirke. Sportler aus Ost und West liefen die 42,195 Kilometer lange Strecke zusammen. Laufen verbindet. Es war mein erster Marathon, den ich nie vergessen werde. Nächstes Jahr feiert der gesamtdeutsche Berlin-Marathon seinen 25. Geburtstag. Ich will wieder dabei sein. Denn Mauerfall, Wiedervereinigung und Berlin-Marathon gehören für mich zusammen. Jochen Willner, 48, ist freier Journalist

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