Ludwigshafen „Erdogans Politik ist brandgefährlich“

Frau Roth, Sie waren Augenzeugin. Was spielt sich in der Region ab?

Es ist gut, dass Sie nach der Region fragen. Man unterschätzt, was in den Nachbarländern Syriens tatsächlich passiert. Es ist eine humanitäre Tragödie. Das zeigt sich auch daran, dass wir weltweit die größte Zahl an Flüchtlingen seit dem Zweiten Weltkrieg haben. Das hat auch mit der Katastrophe in Syrien und im Irak zu tun. In der Region sind über 13 Millionen Menschen und über die Hälfte aller Syrerinnen und Syrer auf der Flucht. Eigentlich unvorstellbar. Als ich an der Grenze zu Syrien in der Türkei war, habe ich mich fast ein bisschen geschämt. Warum? Weil das eine Art Public Viewing ist. Man steht da und blickt über die Straße, also über die Grenze. Und da kämpft Kobane, da kämpft eine Stadt ums Überleben. Wie ist die Lage in Ludwigshafens Partnerstadt Gaziantep? Die Stadt ist ein Brennpunkt in der Region mit etwa 200.000 Flüchtlingen. Im kleinen Nachbarort Kilis arbeiten syrische Ärzte und syrisches Pflegepersonal in einem von Deutschland finanzierten Malteser-Krankenhaus mit 36 Betten. Sie behandelten Verletzte aus Aleppo. Da habe ich gesehen, dass es neben der Bedrohung durch den „Islamischen Staat“ eben immer noch die Bedrohung durch das Assad-Regime gibt, das ja jeden Tag weiterbombt. Wie verhalten sich die Einwohner? In Gaziantep gibt es Unterstützer des „IS“, aber auch viele Menschen, die den Kurden helfen wollen. Fühlen sich die Helfer vor Ort ausreichend unterstützt? In Gaziantep habe ich Vertreter von Unicef getroffen. Sie berichteten, dass im Irak Polio ausgebrochen ist. Es ist beschämend, dass die Weltgemeinschaft der Bitte der Vereinten Nationen nicht folgt, genügend Mittel zur Verfügung zu stellen. Das heißt, die Hilfsorganisationen müssen ihre Lebensmittelhilfe für syrische Flüchtlinge jetzt schon um 40 Prozent reduzieren. Wenn man vor Ort mit den Gouverneuren, Bürgermeistern oder Bischöfen spricht, dann brauchen wir dort jetzt vor allem eine humanitäre Offensive. Was kann Deutschland tun? Deutschland muss auf allen Ebenen viel mehr tun. Dass die humanitäre Hilfe jetzt erhöht wird, reicht nicht. Es kann nicht sein, dass wir neben Schweden als einziges EU-Land Flüchtlinge aus der Region aufnehmen. Aber eben gerade mal 20.000, das ist viel zu wenig. Und Europa zieht die Mauern immer weiter hoch. Nach Suruc bei Gaziantep kamen in zwei Tagen 140.000 Flüchtlinge. In einer Stadt mit 54.000 Einwohnern sind das mehr Menschen als im ganzen Jahr 2013 in Deutschland Asyl beantragt haben. Woran mangelt es? In der Grenzregion der Türkei fehlt es an allem: Nahrung, Kleidung, Medikamente, Unterkünfte. Es gibt viele Menschen in Deutschland, die ihre Angehörigen von dort aufnehmen würden, aber an bürokratischen Hürden scheitern. Deutschland müsste weiter politischen Druck ausüben, etwa auf den Nato-Partner Türkei. Der Eindruck verfestigt sich, dass es Präsident Erdogan mehr darum geht, Kurden zu schwächen als „IS“-Terroristen zu bekämpfen. Ist das die „dreckige Politik“, die Sie der Türkei vorwerfen? Ja. Kurden werden im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ nicht unterstützt. „IS“-Kämpfer werden unter anderem auch in Gaziantep behandelt und können danach ungehindert ihre Gewaltexzesse fortsetzen. Verletzte Kurden werden dagegen aus der Klinik heraus verhaftet. Wer wie Erdogan die PKK mit dem „IS“ gleichsetzt, torpediert den Friedensprozess in der Türkei. Es kann nicht sein, dass der „IS“ aus eroberten Raffinerien in Syrien pro Tag Öl für einen Gegenwert von einer bis drei Millionen Dollar vertickt oder geraubte Weltkulturschätze auf illegalen Märkten anbieten kann. Erdogans Politik ist brandgefährlich. Sie spaltet die Türkei weiter. Sprechen Sie jetzt als Grünen-Politikerin oder als Staatsfrau? Ich spreche als Claudia Roth, die die türkische Politik seit gut 20 Jahren beobachtet und die Region sehr gut kennt. Ich glaube, mit der Forderung, politisch Einfluss auf ein Land zu nehmen, das sich in EU-Beitrittsverhandlungen befindet, drücke ich aus, was viele empfinden. In Ludwigshafen leben 10.000 Türken. Wie nehmen Türken in Deutschland, darunter viele Kurden, die Krise in ihrer Heimat wahr? Die Kurden haben den Eindruck, dass es dort ums nackte Überleben und um den Kampf um eine Perspektive für die Kurden in der ganzen Region geht. Die Menschen türkischer Herkunft sind dagegen gespalten – in Erdogan-Befürworter und -Gegner, wie in der Türkei. Was können Ludwigshafener tun? Ich finde es großartig, dass Ludwigshafen eine Partnerschaft mit Gaziantep hat. Wenn die Leute in Gaziantep spüren, dass sie nicht alleingelassen werden, dass es ein Signal gibt, wird sind bei euch, dann hilft ihnen das wahnsinnig. Dazu könnten die Verbindungen über Städtepartnerschaften dienen. Die Türkei nimmt Millionen Flüchtlinge auf, in Deutschland wird über ein paar Tausend gejammert. Ich kann das nicht nachvollziehen. Ich war letzte Woche in München in der Bayern-Kaserne. Die Zustände dort sind unerträglich. Und München ist anders als Ludwigshafen eine reiche Stadt. Für sechs Millionen Oktoberfest-Besucher gab’s sanitäre Einrichtungen und einen herzlichen Empfang. Aber ein paar Tausend Flüchtlinge hausen in dieser Kaserne unter unbeschreiblichen Bedingungen. Auch das ist beschämend. Was läuft da schief? Jetzt rächt sich eine Politik nach dem Motto: Die Italiener, Spanier oder Griechen sollen sich kümmern. Und im Osten Polen und die anderen EU-Grenzländer. Diese Politik ist total gescheitert. Auch Länder ohne europäische Außengrenzen müssen viel großzügiger aufnehmen. Und wir dürfen nicht glauben, die Flüchtlinge gehen in einem Jahr wieder. Das große Lager in Jordanien mit 125.000 Menschen, das ich besucht habe, stellt sich auf zehn Jahre ein. Menschen, die wir hier aufnehmen, müssen direkt durch Sprachkurse und Weiterbildungen die Möglichkeit der Teilhabe haben. Dafür müssten Kommunen wie Ludwigshafen finanziell aber weitaus besser ausgestattet werden. Auf jeden Fall, da kann sich der Bund nicht so vom Acker machen, das ist nicht nur eine Sache der Länder oder Kommunen. Dafür ist die humanitäre Katastrophe viel zu groß. Bereits 16.000 Menschen aus Europa sollen sich dem „IS“ angeschlossen haben. Wie sehen Sie das? Das macht mir Sorge. Wir müssen uns fragen, was den Reiz ausmacht, für Terrorgruppen zu kämpfen. Warum wird der „IS“ fast eine Art Jugendbewegung? Haben Sie eine Antwort darauf? Nein. Wir dürfen die jungen Menschen jedenfalls nicht ausgrenzen oder abschieben. Sonst betreiben wir eine Art Terror-Export.

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