Ludwigshafen „Eigentum zählt mehr als Menschen“

Privatdetektiv, Kinobetreiber, Touristenführer: Bevor Don Winslow Ende der 1980er Jahre seinen ersten Roman veröffentlichte, arbeitete er in vielen Jobs. Inzwischen zählt der 61-Jährige zu den wichtigsten Krimiautoren der Welt. Für seinen Roman „Tage der Toten“ recherchierte er sechs Jahre über den Drogenkrieg in Mexiko. Oliver Stone verfilmte 2012 Winslows Thriller „Savages“. Soeben ist „Missing. New York“ erschienen, Auftakt einer Serie um den Polizisten Frank Decker. Winslow lebt mit Familie in Kalifornien.

Mr. Winslow, was für einen Wagen fahren Sie?

Einen 2001er Mustang, denn ich mag ältere Autos. Und ich halte mich für einen guten Highway-Fahrer. Ihre Hauptfigur Frank Decker reist mit seiner 1973er Corvette kreuz und quer durch die USA. Kennen Sie diese Tour? Und wie! Ich bin regelmäßig on the road, und habe den kompletten Trip, den ich in meinem Roman beschreibe, schon durchgezogen. Mit meiner Frau fahre ich einmal pro Jahr für mehrere Wochen durchs Land – das ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Wenn ich könnte, wäre ich die ganze Zeit auf den Highways unterwegs. Es fiel mir also sehr leicht, mir vorzustellen, neben Frank in seiner Corvette zu sitzen. Würden Sie dabei wie er Bruce Springsteen hören? Auf jeden Fall, denn Springsteen ist Amerikas größter Straßenpoet. Aber ich hätte auch Jazz dabei: Sonny Stitt, Art Pepper oder Dexter Gordon. Sind Sie vom Schreiben genauso besessen wie Ihre Hauptfigur von der Suche nach einem vermisstes Mädchen? Nein. Das kann man nicht vergleichen. Ich bin zwar definitiv vom Schreiben besessen, vielleicht sogar viel zu sehr, aber es ist doch etwas ganz anderes, um Wörter und Sätze zu kämpfen als sich für einen verschwundenen Menschen einzusetzen. Das, was Frank Decker in meiner Geschichte tut, ist viel nobler und wichtiger als mein Job als Autor. Basiert Ihr aktueller Vermisstenfall auf einer wahren Begebenheit? Nun, er basiert auf vielen tausend realen Fällen. Viel zu viele Kinder in den USA verschwinden, und die Verbindung dieser Fälle zu Menschenhandel und Prostitution ist leider nur allzu wirklich. Mir wäre es lieber, meine Handlung wäre frei erfunden, aber tragischerweise passiert dies andauernd. Man nennt diese Kinder oft Ausreißer, aber ich bezeichne sie lieber als Weggeworfene, da sie oft aus sehr schlimmen Verhältnissen flüchten. Wenn die dann plötzlich auf der Straße einer Stadt stehen, wissen sie zunächst nicht, was sie tun und wohin sie gehen sollen. Sie sind dann eine allzu leichte Beute für Verbrecher. Sie klingen besorgt und verärgert. Ja, das treibt mich um. Denn wir leben zunehmend in einer mobilen Gesellschaft ohne feste Wurzeln, in der die Familienstrukturen zerfallen. Viele Menschen fallen zu schnell durchs Raster. Das ist nicht nur in den USA so – ich glaube, dass die meisten Gesellschaften Eigentum mehr schätzen und schützen als Menschen. Ihre Hauptfigur setzt sich bedingungslos für die Aufklärung seines Falles ein. Würde die Welt besser aussehen, wenn alle Polizisten wie Decker wären? Definitiv. Ich hacke in meinem Buch auch nicht auf Polizisten rum. Die meisten von ihnen sind engagierte, hart arbeitende und kompetente Leute. Aber die Prioritäten werden falsch gesetzt, und deswegen gibt es kleine Budgets und zu wenig Personal. Einem echten Cop kommt Deckers Suche wahrscheinlich romantisch und unrealistisch vor. Ich stimme insofern zu, als nicht jeder Polizist alles hinschmeißen sollte, um nach einer vermissten Person zu fahnden. Andererseits finde ich, dass wir keine einzige Verhaftung wegen Drogen mehr vornehmen sollten, solange nicht alle verschwundenen Kinder Amerikas gefunden worden sind. Frank Deckers Spur führt in die Promiszene New Yorks. Dass Sie VIPs mit Kinderprostitution in Verbindung bringen, ist gewagt. Gute Noir-Romane haben schon immer versucht, hinter die Fassaden der Reichen und Schönen zu blicken. Genauso wie investigativer Journalismus, den es heute kaum noch gibt. Ich sage ja nicht, dass alle VIPs korrupt sind. Aber die Anziehungskraft zwischen diesen Leuten und der Korruption ist größer als anderswo, weil sie sich alles kaufen können, sogar Menschen, Kinder. Ich sage auch ganz offen: Einige Leute haben viel zu viel Geld, kämpfen aber gegen anständige Löhne oder eine gesetzliche Krankenversicherung. Wir sehen das allerdings nicht, denn die Promikultur ist eine Krankheit, die einen zarten Filter auf unsere Augen legt, sodass wir nur den Glamour sehen. Dabei sagt schon ein Sprichwort: Schönheit ist oberflächlich, aber Hässlichkeit geht bis runter zu den Knochen.

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