Ludwigshafen Die Himmelsstürmer

Hat einfach immer weiter recherchiert: Oliver Schwehm.
Hat einfach immer weiter recherchiert: Oliver Schwehm.

Mit dem Mythos der Otrag (Orbital Transport- und Raketen Aktiengesellschaft) befasst sich der Dokumentarfilm „Fly Rocket Fly – Mit Macheten zu den Sternen“ des aus Rheinhessen stammenden Regisseurs und Arte-Redakteurs Oliver Schwehm. Die unglaubliche Geschichte der schwäbischen Tüftler, die ihre privaten Raketen auf einem riesigen Gelände mitten in Afrika testen durften, hat er im Cinema Quadrat in Mannheim vorgestellt.

Es ist erst ein paar Wochen her, dass der erste Weltraumtourist von Elon Musks SpaceX-Weltallprogramm der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist. Lange Zeit vor Musk gründeten Lutz Kayser und seine seit Ende der 1960er-Jahre gemeinsam tüftelnden Kollegen in Stuttgart 1974 die Otrag. Die deutschen Raketeningenieure bauten Antriebe billiger als die Konkurrenz, wurden von Investoren gefördert. Und sie erhielten 1976 im damaligen Zaire mitten in Afrika für ihr privates Raketenprogramm vom Diktator Mobutu Sese Seko ein Versuchsgelände von der Größe der DDR. Auf einem Plateau mitten im Buschland baute Otrag einen Weltraumbahnhof, inklusive eigener Metzgerei und Hanfplantage. Von dort aus schoss die Otrag ihre Raketen in den Himmel, bis die Politik dazwischenfunkte: Weder Ost noch West wollten deutsche Raketen, und Europa fing gerade an, im überstaatlichen Projekt an der „Ariane“ zu basteln. Lutz Kayser, der kurz nach dem Film-Interview im Alter von 78 Jahren verstorben ist, muss ein charismatischer Zeitgenosse gewesen sein. „Er war nicht ganz ein Playboy. Ein angenehmer Lebemann, würde ich sagen“, beschreibt ihn einer seiner zahlreichen Weggefährten und Zeitzeugen in Schwehms ansonsten nur aus damaligen Originalaufnahmen bestehendem Film. „Auf manche wirkte er arrogant“, sagt Kaysers zweite Ehefrau über ihn und erklärt: „Er war sehr groß und blickte wortwörtlich über alle Dinge.“ Dieser Überblick schien zugleich die Schwäche des technokratischen Genies zu sein. „Er hatte ein mangelndes Gespür für die Details und sensiblen Übergänge“, sagt Schwehm im Gespräch. So war Kayser wohl nicht bewusst, dass der Name „Wotan“ für die erste deutsche Rakete aus dem Kongo eher ungeschickt gewählt war. Auch die weltpolitische Brisanz eines deutschen Raketenprogramms drei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg habe Kayser unterschätzt. „Ich wollte mir beweisen, dass es diese Geschichte tatsächlich so gegeben hat“, antwortet Schwehm auf die Publikumsfrage nach seiner Intention, den Film zu drehen. Die Otrag-Mitarbeiter von damals hätten mitunter recht misstrauisch auf die Recherchen des 43-Jährigen reagiert, „was ich durchaus verstehen konnte“. Allein nach zwei der insgesamt vier französischen Ex-Fremdenlegionäre, die damals für die Sicherung des Otrag-Geländes in Zaire zuständig waren, habe Schwehm drei Jahre lang gesucht, bis er den entscheidenden Hinweis bekommen habe: „Das Tier“, wie sich der im Filminterview mordlüstern-durchgeknallt präsentierende eine Ex-Legionär selbst nennt, lebe mittlerweile auf Korsika. „Irgendwann hat sich da eine derartige Eigendynamik ergeben. Ich wollte immer nur weiter recherchieren“, sagt Schwehm. „Fly Rocket Fly“ ist nicht der erste Film des gebürtigen Mainzers, der in Alzey aufwuchs und jetzt in Straßburg lebt: Auf sein Konto gehen „Winnetou darf nicht sterben“ (2007) ebenso wie „German Grusel – Die Edgar-Wallace-Serie“ (2011) oder „Cinema Perverso – Die wunderbare und kaputte Welt des Bahnhofskinos“ von 2015. „Ihr Film verlangt nach einer Fortsetzung“, forderte Zuschauer Leopold Sztatecsny. Der 53-Jährige ist der Sohn von Klaus Sztatecsny, dessen tödlicher Bootsunfall am Ende des Films zu sehen ist. War es überhaupt ein Unfall? Kamen die sieben Techniker 1979 auf dem reißenden Fluss Luvua im kongolesischen Zaire ums Leben, weil ein Flusspferd ihr Boot umgestoßen hat? Oder hatten doch östliche Geheimdienste ihre Finger im Spiel? Oder westliche? Viele Fragen sind am Ende offen geblieben. Und werden es wohl weiter bleiben.

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