Ludwigshafen „Das war blamabel“

WM 2002: Ilhan Mansiz (links) und Hakan Sükür schossen die Türkei zum dritten Platz.
WM 2002: Ilhan Mansiz (links) und Hakan Sükür schossen die Türkei zum dritten Platz.

Noch 55 Tage bis zum Anstoß bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland (14. Juni bis 15. Juli). In loser Folge sprechen wir mit Ludwigshafenern, die ihre Wurzeln in Ländern haben, die sich – überraschenderweise oder mal wieder – nicht fürs Turnier qualifiziert haben. Heute: Ediz Sari (48), der als Chemielaborant an der Universität Heidelberg arbeitet. Der türkischstämmige Trainer von Phönix Schifferstadt ist in Ludwigshafen aufgewachsen.

Herr Sari, erinnern Sie sich an den 29. Juni 2002?

(lacht). Ja, klar. Das war der erfolgreichste Tag in der Geschichte des türkischen Fußballs. Da sind wir bei der WM in Japan und Südkorea Dritter geworden. Ein super Turnier, ein super Tag. Darüber wird in der Türkei heute noch geredet. Sie sagen „wir“, obwohl Sie hier aufgewachsen sind und – wie Sie mir mal erzählt haben – besser Deutsch als Türkisch sprechen. Natürlich habe ich mit dem Team gefiebert, bin bei den Spielen richtig nervös geworden. Da habe ich festgestellt, dass türkisches Blut in meinen Adern fließt, dass ich türkische Wurzeln habe. Wissen Sie noch, welchen Rekord es damals gab? Wie könnte ich das vergessen. Hakan Sükür hat im kleinen Finale gegen Südkorea beim 3:2 das schnellste Tor in der Geschichte der WM geschossen. Ich glaube nach elf Sekunden. Dazu hat der in Deutschland geborene Ilhan Mansiz zweimal getroffen. Waren das noch Zeiten (seufzt laut). Und danach sind Sie in einem Autokorso mitgefahren. Laut hupend und die türkischer Flagge schwenkend, oder? Genau. Ich habe auf dem Platz des SV Südwest bei einem Jedermann-Turnier mitgespielt. Danach sind wir an den Wasserturm nach Mannheim gefahren. Das war irre. Die Türkei war zum ersten Mal seit 1954 bei einem WM-Turnier dabei. Wir kannten das Gefühl gar nicht. Haben Sie die Spiele alle sehen können? Das war schon etwas problematisch, weil sie wegen der Zeitverschiebung morgens oder am Nachmittag übertragen wurden. Jetzt kann ich es ja sagen: Ich habe mich abgeseilt und in die Mensa geschlichen, wo eine Leinwand aufgebaut war. Es hat mich keiner erwischt (lacht laut). 2008 hat es noch einen Erfolg gegeben, als die Türkei ins Halbfinale der EM gekommen, aber gegen Deutschland ausgeschieden ist. Tut das besonders weh? Nein, aber es war schade, weil wir eine starke Mannschaft hatten. Im Halbfinale, das ich mit meinen Töchtern am Taksim-Platz in Istanbul gesehen habe, fehlten etliche Spieler wegen Verletzungen und Sperren. Trotzdem hätten wir es fast in die Verlängerung geschafft. Semih Sentürk hat das 2:2 geschossen, aber Philipp Lahm, der sonst kaum getroffen hat, hat in letzter Minute das 3:2 erzielt. Das war sehr unglücklich. Die Realität heute sieht trübe aus. Platz vier in der WM-Qualifikationsgruppe hinter Island, Kroatien und der Ukraine. Armselig, oder? Das war richtig blamabel. Allein Istanbul hat 40 Mal so viele Einwohner wie ganz Island. Die finanziellen Mittel sind da, aber die Mannschaft hat zu keinem Stil gefunden. Die Türkei steht in der Abwehr nicht gut, und auch das Offensivspiel lässt zu wünschen übrig. Es spielen Leute, die im Verein keinen Stammplatz haben. Gibt es in der Türkei kein Konzept wie in Deutschland, als zu Beginn des Jahrhunderts begonnen wurde, die Ausbildung der jungen Spieler massiv zu verbessern? Im Jahr 2000 hat mein Lieblingsklub Galatasaray Istanbul den Uefa-Cup gewonnen. Diese Generation hat die Nationalelf geprägt. Heute kommen keine Talente mehr nach, weil die Jugendarbeit nicht gut ist. Vor Kurzem hat in einem Testspiel ein 35-Jähriger gespielt. Außerdem werden nicht immer die Besten nominiert, aber das liegt an der Verbandspolitik. Ziehen nicht alle an einem Strang? Nein, die Gremien sind gespalten. Hakan Sükür war ein Idol, jetzt ist er fast ein Feind. Er soll Anhänger der Gülen-Bewegung sein. Apropos Politik: Kommen wegen der Politik Erdogans weniger ausländische Spieler in die Türkei? Nein, das glaube ich nicht. Die Ausländer leben wie die Könige, werden abgeschottet. Kürzlich stand bei Galatasaray nur ein Türke in der Startelf. Bei den anderen großen Istanbuler Klubs Besiktas und Fenerbahce ist es ähnlich. Das hat Auswirkungen auf die Nationalmannschaft. Es gibt türkischstämmige Spieler wie Mesut Özil, Ilkay Gündogan oder Emre Can, die für Deutschland spielen. Wie wird das in der Türkei gesehen? Die Türken sind stolz auf sie. Deutschland ist mit Mesut Özil Weltmeister geworden, das freut uns. Mich besonders, weil unsere Familien beide aus der Nähe von Zonguldak am Schwarzen Meer kommen. Was machen Sie während der WM? Urlaub, Fußballaskese oder doch ein Platz am Fernseher? Wo denken Sie hin. Ich gehe zwar in Urlaub und mache mit meiner Frau eine Mittelmeerreise, aber ich schaue die WM und freue mich auf jedes Spiel. Und verdrücken eine Träne, weil die Türkei nicht dabei ist? Nein, wir sind es gewohnt, dass unsere Nationalmannschaft meistens nicht dabei ist. Wem drücken Sie bei der WM die Daumen? Deutschland natürlich. Ich bin hier aufgewachsen, habe hier Freunde und einen Bezug zu Deutschland. Vor vier Jahren habe ich prophezeit, dass die Deutschen Weltmeister werden. Das sage ich jetzt wieder. Die Türkei und Deutschland rangeln um die Ausrichtung der EM 2024. Wer soll den Zuschlag bekommen? Die Türkei macht viel dafür, baut neue Stadien und hat alte modernisiert. Man muss Sport und Politik trennen. Deutschland war schon oft genug Ausrichter großer Turniere, die Türkei sollte die Chance bekommen, sich zu präsentieren. Erleben wir vorher noch den nächsten türkischen Autokorso? 2020, 2022? Ich bin da skeptisch und eigentlich will ich das gar nicht. Das müssen Sie erklären. Ja, mein Hund dreht durch und flippt bei der Huperei regelrecht aus. Er bellt die ganze Zeit. Und was mein Hund nicht will, will ich auch nicht (lacht).

x