Ludwigshafen „Frauenthemen lange in Nischen abgeschoben“

Hat sich in Sachbüchern und Romanen mit der gleichgeschlechtlichen Liebe zwischen Frauen beschäftigt: Angela Steidele.
Hat sich in Sachbüchern und Romanen mit der gleichgeschlechtlichen Liebe zwischen Frauen beschäftigt: Angela Steidele.

„Was mich in der Welt hält, das ist die Liebe.“ Dieses Zitat Silvia Bovenschens steht über dem ihr gewidmeten Eröffnungsabend zum Literaturfestival „lesen.hören“ in Mannheim. Angela Steidele wird heute mit anderen Literaten an die im vergangenen Jahr gestorbene Literaturwissenschaftlerin erinnern und am Sonntag auf einer eigenen Veranstaltung ihr neues Buch „Anne Lister. Eine erotische Biographie“ vorstellen. Wir haben mit der Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Angela Steidele gesprochen.

Frau Steidele, Sie treten gleich zweimal beim Mannheimer Literaturfestival auf, einmal bei der Eröffnung, dann mit Ihrem neuen Buch. Wie ist es dazu gekommen?

Vor zwei Jahren durfte ich auf dem Mannheimer Literaturfestival meinen Roman „Rosenstengel“ vorstellen. Der Abend wurde für mich zu einem der schönsten mit diesem Buch überhaupt. Ich habe das Mannheimer Publikum als sehr lachlustig und begeisterungsfähig erlebt. Und wohl wegen dieses gelungenen Abends haben wir schon im letzten Herbst eine Lesung mit meinem neuen Buch auf dem jetzigen Festival vereinbart. Dann starb Silvia Bovenschen, und die Macherinnen des Festivals entschieden sich, ihrem Werk und Andenken den Eröffnungsabend zu widmen. Nun weiß die Programmleiterin Insa Wilke, dass ich Silvia Bovenschen sehr viel verdanke. Wir sind uns einmal zu dritt vor vielen Jahren im Literaturhaus in Köln begegnet. Silvia Bovenschen ist eine meiner intellektuellen Ikonen, und Insa Wilke hofft wohl, dass ich dabei helfen kann, dem Publikum das bedeutende intellektuelle Vermächtnis von Silvia Bovenschen näher zu bringen. Dass ich dieses Jahr gleich zweimal auftreten darf, empfinde ich als große Ehre. Worin besteht denn die Bedeutung, die Silvia Bovenschen für Sie hatte? Ich bin von Hause aus Literaturwissenschaftlerin und habe Silvia Bovenschens Dissertation „Die imaginierte Weiblichkeit“ früher fast auswendig gekannt. Das Buch wirft einen neuen Blick auf die Literatur und Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts, die uns heute noch prägt. Es macht klar, dass auch anscheinend überzeitliche Themen aus einer Geschlechterperspektive geschrieben sind. Dass der allgemeine Diskurs – über Recht, Geschichte, Wissenschaft, Vernunft, alles – nicht ablösbar ist von der Geschlechterfrage. Dass Frauen und ihre Themen in Nischen abgeschoben wurden. Die Untersuchung ist unerhört brillant durchdacht, vorgetragen in einer wunderbaren Sprache und ohne irgendeinen Furor in der Art: Jetzt zeigen wir’s denen. Alle sind eingeladen, über Gerechtigkeit nachzudenken. Das ist einfach großartig. Auch „Älter werden“ ist so ein Buch, in dem Silvia Bovenschen schärfer dachte, überraschend dachte. Das Lesepublikum – also wir alle – hatte im Grunde Glück, dass es ihr wegen ihrer Krankheit versagt war, eine Karriere an der Universität zu machen und sich dort in akademischen Scharmützeln aufzureiben. Und uns stattdessen ihre Bücher schenkte. Wissen Sie schon, was Sie dem Publikum am Eröffnungsabend bieten werden? Ja, wir haben das schon abgesprochen. Hannelore Hoger wird besonders prägnante Texte von Silvia Bovenschen vortragen, ich werde etwas aus der „Imaginierten Weiblichkeit“ beitragen, Thomas Meinecke etwas zu ihrem Buch „Sarahs Gesetz“. Und Frank Witzel wird aus einem unveröffentlichten Interview vorlesen, das er mit Silvia Bovenschen geführt hat und in dem es um 1968 geht. Der Abend soll eine Einladung werden, sich über Silvia Bovenschens Tod hinaus mit ihrem Werk zu beschäftigen. Nicht nur mit Silvia Bovenschen, auch mit Hanns-Josef Ortheil, der auf dem Festival sein neues Buch „Der Typ ist da“ vorstellt, verbindet Sie einiges. Ja, er war mein wichtigster akademischer Lehrer, als ich in Hildesheim studiert habe. Dem Studiengang Kulturpädagogik war damals schon eine Schreibschule angegliedert, an der Hanns-Josef Ortheil unterrichtete. Ich habe bei ihm vom ersten Semester an Seminare im freien Schreiben belegt. Er konnte mit wenigen Sätzen verständlich erklären, was Poststrukturalismus ist, und hat uns wunderbar an die deutsche Sprache auf ihrer Mikroebene herangeführt. Nun zu Ihrem neuen Buch. Wer war Anne Lister? Anne Lister war eine englische Landadlige, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte und die eines der umfangreichsten Tagebücher hinterlassen hat, die je in englischer Sprache geschrieben wurden. Ein Siebtel davon in einer Geheimschrift. Darin beschreibt sie all ihre zahlreichen Affären mit anderen Frauen, und zwar in einer geradezu pornografischen Deutlichkeit, die einer gefühlten Pfarrerstochter wie mir die Schamesröte ins Gesicht treiben. Wie sind Sie auf Anne Listers Tagebücher gestoßen? 1988 und 1992 hat Helena Whitbread, eine englische Forscherin, zum ersten Mal Auszüge aus Anne Listers Tagebüchern transkribiert und veröffentlicht. Die Veröffentlichung schlug im englischen Sprachraum ein wie eine Bombe, denn dort wurde die Legende aufrechterhalten, dass Frauen bis etwa 1900 einander zwar lieben konnten, aber nie Sex miteinander hatten. Anne Lister schreibt aber jeden Morgen, wie oft sie und ihre Partnerin am Vorabend gekommen sind und ob’s schön war. Danach hält sie fest, wie das Wetter ist. Eine Art Sex- und Klimatabelle also. Anne Listers Tagebücher bieten also einen Wahnsinnsstoff, denn auch Männer schrieben damals nicht über ihr Sexualleben. Ich habe lange gewartet, dass in England eine Biographie über sie erscheint, um sie zu übersetzen. Jetzt habe ich diese Biographie selbst geschrieben. Sie wird gerade ins Englische übersetzt. Eine der Hauptfiguren Ihres Romans „Rosenstengel“ ist Catharina Linck, eine historisch verbürgte Frau, die ein Leben in Männerkleidern führte und 1721 hingerichtet wurde. Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es zwischen ihr und Anne Lister? Beide waren charismatische Persönlichkeiten, beide liebten Frauen. Aber beide bezogen ihr Selbstverständnis weniger aus ihrer Sexualität als aus ihrer Stellung in einer Klassengesellschaft. Catharina Linck war ein pietistisches Waisenmädchen aus der Gosse. Anne Lister war von niederem Adel. Wenn man die beiden nach ihrer Identität gefragt hätte, hätten sie ihre sexuelle Orientierung vielleicht gar nicht genannt. Den Begriff „lesbisch“ gab es damals auch noch nicht, er wurde erst im späten 19. Jahrhundert geprägt. Solche Vorstellungen und Begriffe sollten wir der Vergangenheit nicht überstülpen. Anne Lister benutzt, wenn sie auf ihre männliche Attitüde und ihre Lust auf Frauen zu sprechen kommt, den selbstironischen Begriff „odd“, also „sonderbar“. Catharina Linck war eine echte Vagabundin und Abenteurerin, während Anne Lister viel weniger frei war. Sie hatte aufgrund ihres Standes etwas zu verlieren und hat daher versucht, immer die Fassade aufrechtzuerhalten. Bewundern Sie solche Frauen wie Catharina Linck und Anne Lister? Ja, auf jeden Fall. Sie waren auf ihre Weise schon Heldinnen. Die Freiheit, mit der sie gelebt haben, ist atemberaubend. Anne Lister war auch eine große Reisende, eine Bergsteigerin. Sie starb 1840 auf einer Trekkingtour im heutigen Georgien. Sie war allerdings auch ein echtes Früchtchen. Für ihre Liebhaberinnen nicht einfach – für uns dagegen höchst amüsant. Zum Schluss eine provokative Frage. Müssten solche Frauen wie Catharina Linck und Anne Lister in die „MeToo“-Kampagne gegen sexuelle Gewalt aufgenommen werden? (lacht). Nein. Gewalt und auch das Ausnutzen von Privilegien spielt bei beiden keine Rolle. Catharina Linck war sehr arm, sie hatte nichts zu vergeben. Und Anne Lister verführte sehr zärtlich und charmant. Auch mich. Termine Eröffnung des 12. Literaturfestivals „lesen.hören“ mit einer Hommage an Silvia Bovenschen heute um 20 Uhr in der Alten Feuerwache in Mannheim. Angela Steidele stellt ihre Biographie Anne Listers am Sonntag, 25. Februar, 18 Uhr, in der Alten Feuerwache vor.

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