Landau Kriminologe: Andere Kultur kann, muss aber keine Rolle bei der Tat in Kandel gespielt haben

„Mia warum?“: Trauernde drücken Ende Dezember ihre Anteilnahme mit unterschiedlichen Utensilien vor dem Drogeriemarkt in Kandel
»Mia warum?«: Trauernde drücken Ende Dezember ihre Anteilnahme mit unterschiedlichen Utensilien vor dem Drogeriemarkt in Kandel aus, in dem die 15-jährige Mia von einem angeblich gleichaltrigen afghanischen Flüchtling erstochen wurde. Die Tat hat deutschlandweit eine Debatte über den Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen ausgelöst.

Christian Pfeiffer hat vergangene Woche eine Studie über Flüchtlingskriminalität vorgelegt. Die Resonanz war riesig. Der frühere Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts spricht am Donnerstagabend in Landau über Politik und Angst.

Herr Pfeiffer, nach der Bluttat von Kandel ist eine Debatte über den Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen entbrannt. Es schwingt dabei auch die Frage mit, ob andere Kulturen gewaltbereiter sind als unsere. Wie lautet Ihre Antwort darauf?

Eine Tat wie in Kandel kann mit dem kulturellen Hintergrund des Täters zusammenhängen, muss aber nicht. Jemand, der keinen Boden unter den Füßen hat, der auf kein ihn stabilisierendes soziales Netz zurückgreifen kann und deshalb seine ganzen Hoffnungen auf diese eine Beziehung setzt, ist besonders gefährdet, eine solche Tat zu begehen. Um das zu erklären, muss nicht die Machokultur einer anderen Nation herhalten. Ich glaube, diese Antwort wird nur wenige befriedigen. Schauen Sie: Bei meinem ersten Fall als ehrenamtlicher Bewährungshelfer war ich für einen jungen Mann zuständig, der seine Freundin erstochen hat. Zum Tatzeitpunkt war er arbeitslos, neu in der Stadt, hatte noch keine Freunde. Und da trennt sich seine Freundin von ihm, weil er gar zu sehr klammert. Er will das nicht akzeptieren, macht angetrunken in der Tatnacht Radau vor ihrer Wohnung. Als sie später zusammentreffen, bittet er sie um ein Gespräch. Sie beschimpft ihn. Dann dreht er durch, sticht zu. Ich will damit nur sagen, dass man kein minderjähriger Flüchtling aus Afghanistan sein muss, um seine Ex-Freundin umzubringen. Das heißt: Es gibt keinen „afghanischen Kontext“ für die Tötung der 15-jährigen Mia. Das kann ein wichtiger Einflussfaktor gewesen sein, aber es muss nicht. Ob die Kultur des Täters, in der Männer eine sehr dominante Rolle spielen, eine Variable für die Erklärung der Tat ist, wird nun ein Gutachter zu klären haben. Die Diskussion, die sich von Kandel aus auf die Republik ausgebreitet hat, wird nicht akademisch geführt, sondern sehr emotional. Es gibt eine Flut von Leserbriefen, manche triefen vor Hass und Ablehnung. Andere Menschen haben einfach Angst, das ist kein unanständiges Gefühl, sondern eines, das man ernst nehmen sollte. Was sagen Sie diesen Menschen? Ich will ausdrücklich festhalten: Alle Fragen dieser Leute sind berechtigt. Man muss sie stellen. Auf der Basis dessen, was in Kandel passiert ist, muss überprüft werden, was über Gewalttaten von minderjährigen Flüchtlingen bekannt ist. Nur verfügen wir gegenwärtig noch nicht über taugliche Daten, um das abschließend beurteilen zu können. Was wir wissen, ist, dass besonders junge, ungebundene Männer, die noch keinen Platz in einer Gesellschaft gefunden haben, immer eine große Gefahr sind. Fertige Antworten auf dieses Problem gibt es aber noch nicht. Dennoch kann die Politik nicht abwarten, bis irgendwann Studien Ergebnisse bringen. Vorschlag: Sollten Zuwanderer in den Sprachkursen nicht auch eine Art Beziehungsunterricht bekommen, in dem sie lernen, wie Mann und Frau in diesem Land miteinander umgehen? Was Sie ansprechen, muss eine Selbstverständlichkeit sein, denn das ist ungeheuer wichtig. Ich habe mir die Lerninhalte von solchen Kursen angeschaut und war dann schon erstaunt, wie wenig Zeit darauf verwendet wird, über das Verhältnis von Männern und Frauen zu sprechen. Diese emotional wichtige Auseinandersetzung kommt auf jeden Fall zu kurz. Man muss aber Tacheles reden, muss sich auseinandersetzen, muss diese jungen Männer auch mal provozieren, um ihnen klar zu machen, was bei uns radikal anders ist. Etwas hat sich hervorragend bewährt: die zivilgesellschaftliche Betreuung von minderjährigen Flüchtlingen. Es reicht nicht, dass sich nur Sozialarbeiter kümmern. Sie haben vergangene Woche eine Studie vorgestellt, die sich auf den Anstieg von Gewalttaten von 2014 bis 2016 am Beispiel von Niedersachsen konzentriert – vor allem bei Asylsuchenden. Spannend: Besonders Menschen aus Marokko, Algerien und Tunesien waren auffällig. Genauso spannend: Syrer, Iraker und Afghanen hatten deutlich seltener Probleme mit dem Gesetz. Was sind die Kernerkenntnisse dieser Untersuchung? Zwischen den Gruppen gibt es riesige Unterschiede bei der Gewaltbelastung. Wer bei uns gute Perspektiven hat, im Land zu bleiben – also Syrer, Iraker und Afghanen – ist friedlicher. Hingegen neigen Migranten aus Ländern, die eine geringe Bleibeperspektive haben – also etwa Marokkaner, Algerier und Tunesier – zu mehr Gewalt. Klar ist: Wir können nicht alle aufnehmen, das würde unser Land überfordern. Aber diese Menschen aus Nordafrika sind in Niedersachsen für 31 Prozent aller Raubdelikte zuständig, die Flüchtlingen zugeschrieben werden, obwohl sie nur 0,9 Prozent der Flüchtlinge stellen. Die Kriegsflüchtlinge wiederum, die gute Chancen haben, hierzubleiben, und einen Anteil von 54 Prozent bilden, waren nur an 16 Prozent aller Raubdelikte beteiligt. Heißt: Je stabiler die Bleibeperspektive ist, desto weniger Gewalt wenden die Menschen an. Das bedeutet, dass wir die Rückkehrprogramme für diejenigen intensivieren müssen, die das Land früher oder später verlassen sollen. Das geht über Geldanreize, aber auch über Ausbildung, damit ein Marokkaner in Rabat Kellner in einem Touristenrestaurant werden kann, weil er einigermaßen gut deutsch spricht. Natürlich müssen die Unbelehrbaren abgeschoben werden. Rheinland-Pfalz hat übrigens gute Erfahrungen mit solchen Programmen gemacht und konnte überproportional viele motivieren, nach Hause zu gehen. Die freiwillige Rückkehr ist immer billiger als die Abschiebung. Der Fall von Kandel hat auch eine Diskussion über die Alterserkennung von den als minderjährig eingestuften Flüchtlingen losgetreten. Wie stehen Sie dazu? Die Alterserkennung muss sicherlich verbessert werden. Aber davon darf man sich doch nicht einen Rückgang der Gewalttaten junger Flüchtlinge versprechen. Sie bleiben doch dieselben Menschen und erhalten, wenn sie als Schinder entlarvt worden sind, sogar weniger Unterstützung als in den Programmen für Minderjährige. Sie sprechen morgen in Landau über Angst und Politik. Angst ist eine Methode, der sich meistens Populisten bedienen, um die Menschen hinter sich zu bringen. Sie funktioniert so: Politiker sagen, der Feind stehe außen, deshalb müsse man nun zusammenhalten. Das formt ein Wir-Gefühl. Wie kann es gelingen, diese Angst zu dimmen und damit auch die Debatte zu entemotionalisieren? Die Medien haben eine zentrale Verantwortung. Beispiel: Vergangene Woche haben meine Kollegen und ich nicht nur eine Studie über Flüchtlingsgewalt vorgestellt, sondern auch über Jugendgewalt. Über die Flüchtlingsgewalt wurde ich in 18 Fernsehinterviews befragt, über die großartigen Entwicklungen in der Jugendgewalt, die um über 40 Prozent zurückgegangen ist, in einem Sender. Heißt: Only bad news are god news, nur schlechte Nachrichten verkaufen sich gut. So funktioniert es eben. Aber die Medien produzieren mit ihrer Fixierung auf negative Nachrichten Angst, das haben wir auch wissenschaftlich eindeutig nachgewiesen. Die Daten zeigen: Die Boulevardpresse und Privatsender dramatisieren nun einmal sehr stark. Wer sich primär aus solchen Medien informiert, gerät mit seiner gefühlten Kriminalitätstemperatur schnell ins Fieber. Wer dagegen wenig Fernsehen schaut und viel „FAZ“ oder „Süddeutsche“ liest, hat ein zutreffenderes Urteil. Interessant ist, dass Regionalzeitungen wie die RHEINPFALZ sehr solide berichten, da gibt es keine Radikalisierung in den Darstellungen. Kann diese Angstspirale dann überhaupt durchbrochen werden? Meine Prognose ist: Wenn es der kommenden Regierung gelingen sollte, die Zahl der Neuankömmlinge stabil niedrig zu halten, gleichzeitig Rückkehrprogramme zu organisieren, in der Integration die heißen Themen anzusprechen und auch die Bevölkerung nicht locker lässt, die Flüchtlinge in unser Leben einzubeziehen, dann werden wir das bewältigen. Richtig ist aber auch, dass wir eine Antwort auf die vielleicht fast 300.000 jungen Männer im Land finden müssen, die keine Perspektive haben, hierzubleiben. Info In der Reihe „Angst und Politik“ laden die Evangelische Akademie der Pfalz, das Frank-Loeb-Institut an der Uni Landau und die Stadt Landau zum zweiten Landauer Akademiegespräch ein. „Angst und innere Sicherheit“ heißt es am morgigen Donnerstag um 19 Uhr im Alten Kaufhaus. Zu Gast sind Beate Bube, Präsidentin des Landesamtes für Verfassungsschutz Baden-Württemberg, und unser Interviewpartner Christian Pfeiffer.

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