Kreis Germersheim Um Haaresbreite entkommen

Hagenbach. Nach Rosa Vollmers Vertreibung aus Hagenbach während des Novemberpogroms 1938 setzte der NS-Staat seinen Raubzug fort. Die Bayerische Bauernsiedlung GmbH, die jüdischen Besitz in „arische“ Hand überführte, bedrängte sie am 22. April 1939, ihre Liegenschaften zu verkaufen. Ihr Wohnhaus und ein kleines Krautstück wurden im November 1941 vom Deutschen Reich beschlagnahmt. Zwei Monate zuvor hatte Vollmer der Karlsruher Pfandleihanstalt bereits ihren Schmuck und ein 18-teiliges Silberbesteck für einen Bruchteil des Werts ohne Quittung aushändigen müssen.

Der Kriegsausbruch verschärfte die ohnehin prekäre Situation der Juden. Nächtliches Ausgehverbot, vorgeschriebene Einkaufszeiten und -stätten, genehmigungspflichtige Wohnsitzwechsel und eine als Arbeitspflicht ummäntelte Zwangsarbeit trieben jeden, der Mittel und Möglichkeit hatte, in die Emigration. Mochten die bürokratischen Hürden auch noch so hoch und die Einreisequoten der Zielländer entmutigend niedrig erscheinen. Dank ihres Sohnes und Bruders, die aus den USA bürgten, standen Rosa Vollmers Aussichten nicht schlecht. Gedämpft zuversichtlich kommentierte die Karlsruher Auswanderer-Beratungsstelle im April 1940: „Sie hat die Registriernummer 12749 und kann mit baldigem Abruf rechnen.“ Obwohl die AOK und die Reichsbankstelle Karlsruhe grünes Licht gaben, unterzog das Oberfinanzpräsidium Baden die Ausreisekandidatin misstrauisch einer zeitraubenden Prüfung. So musste Vollmer im November 1940 den abgelaufenen Unbedenklichkeitsbescheid der Krankenkasse abermals bestätigen und ihren Reisepass vom US-Konsulat Stuttgart mit einem aktuellen Visumstempel versehen lassen. Von der Reichsfluchtsteuer war sie „mangels Vorhandenseins eines abgabepflichtigen Vermögens befreit“, nicht aber vom Jahresbeitrag 1941 für die Reichsvereinigung der Juden. Mit dem Sicht- und Durchreisevermerk für Spanien vom 25. Januar 1941 fuhr sie nach Berlin. Hier startete einige Tage später der Sondertransport durch das besetzte Frankreich über Spanien nach Lissabon. Dieser letzte Aufenthalt auf der iberischen Halbinsel und die zweieinhalbwöchige Atlantiküberquerung kosteten Rosas Bruder Julius Abraham 250 US-Dollar. Am 24. März 1941 erreichte die 53-jährige Witwe fast mittellos New York. Es traf sie schwer, als sie erfuhr, dass ihre beiden Anfang Februar in Berlin aufgegebenen Überseekoffer einbehalten worden waren. Der auf 1150 Reichsmark (RM) veranschlagte Inhalt mit dem Rest ihrer persönlichen Habe blieb - kaum überraschend - verschollen. Um Haaresbreite entkommen, hatte sich Vollmer dem Los der seit Oktober 1940 in Gurs/Frankreich internierten saarpfälzisch-badischen Juden entziehen können. Weshalb sie im Winter 1940/41 ihre Emigration weiter von Karlsruhe aus betreiben durfte, ist ungeklärt. Ihrer Schwägerin Emma Vollmer fehlte das Glück. Sie wurde im August 1942 von Gurs nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Die Entschädigungsprozesse der Nachkriegszeit erforderten Rosa Vollmers ganze Geduld und Ausdauer. Ihre im Februar 1941 eingestellte Kriegerwitwenrente - zuletzt monatlich 36,45 RM - erhielt sie seit April 1950 zu 56 Prozent und ab November 1954 uneingeschränkt. Keinen Ausgleich gab es aber für die bis März 1950 vorenthaltene Rente. Vollmers häusliche Pogromschäden und Ausreisekosten vergütete das Karlsruher Wiedergutmachungsamt 1955/57 vergleichsweise zügig, wenngleich nicht sonderlich großzügig, mit 2087 DM. Zentrale Forderung blieb aber der verfolgungsbedingte Verlust ihrer wirtschaftlich-beruflichen Stellung. Seit der Flucht aus Deutschland, klagte die alleinstehende Witwe im November 1954, „ist es mir nicht gelungen, eine gleichwertige Lebensgrundlage wiederzugewinnen“. Die Eingliederung in den US-Arbeitsmarkt „erwies sich infolge meines Alters“ als „sehr schwierig, und reicht mein Verdienst nur zur Fristung eines baren Existenzminimums aus“. So arbeitete Vollmer noch 1957 - im 70. Lebensjahr - als schlecht bezahlte Näherin in diversen New Yorker Textil- und Kleiderfabriken. Das enttäuschende Ergebnis des langwierigen Verfahrens konnte sie 1958 dadurch etwas verbessern, dass der magere Einmalbetrag in eine ab 1953 rückwirkend ausbezahlte Monatsrente umgewandelt wurde. Als Vertreterin einer Erbengemeinschaft regelte sie 1959 vor Ort den Verkauf ihres rückübertragenen Hagenbacher Wohnhauses. Dabei wurden schmerzliche Erinnerungen geweckt, gegenüber den einstigen „Mitbürgern“ wahrte sie durchweg kühle Distanz. Mit ihrer Vergangenheit hatte sie, so gut es ging, abgeschlossen. Den Hagenbacher Forstmann Heinrich Abel schätzte sie zeitlebens dafür, „die Freundschaft mit uns nie geleugnet zu haben“. Ihm schrieb sie aus ihrer Wahlheimat Flushing, New York: „Bin froh, hier in Frieden mit meiner Familie leben zu können und hoffe auch, dereinst meine Augen da zu schließen“. Dies geschah am 28. Oktober 1969 im Beisein zweier Enkelkinder, fünfeinhalb Jahre nach dem Ableben ihres Sohnes Kurt und fast taggenau 52 Jahre nach dem Soldatentod ihres Ehemannes.

x