Kreis Germersheim Germersheim: Ein Jahrzehnt Wohngruppe für Borderline-Patientinnen

Mit dem Verkauf von selbst hergestellten Mützen, Karten und Schmuckstücken wollen sich die jungen Frauen aus der Wohngruppe den
Mit dem Verkauf von selbst hergestellten Mützen, Karten und Schmuckstücken wollen sich die jungen Frauen aus der Wohngruppe den Wunsch nach einem Trampolin erfüllen.

13 junge Frauen leben in einer Wohngruppe für Borderline-Patientinnen zusammen. In dem deutschlandweit einzigartigen Projekt des Christlichen Jugenddorfwerks lernen sie, sich selbst, anderen und dem Leben wieder zu vertrauen. Jetzt wurde das zehnjährige Bestehen gefeiert.

„Aber nun scheine ich mir selbst fremd zu sein. Und alles, was ich tue, tue nicht ich, sondern jemand anders“, singt Sandra*, nur von einer Gitarre begleitet. Ein Gänsehautmoment. Denn das Lied ist viel mehr als eine zerbrechliche A-cappella-Version des Heavy-Metal-Krachers „Wasted Years“ von Iron Maiden - es ist eine Lebensgeschichte. Sandra ist Borderline-Patientin, ihre Gefühle fahren mit ihr Achterbahn, soziale Beziehungen fallen ihr schwer. Mit 12 anderen jungen Frauen lebt sie in einem deutschlandweit einmaligen Wohnprojekt in Germersheim zusammen und lernt dort, alleine im Leben zurecht zu kommen. Nun konnte die Intensivwohngruppe ihr zehnjähriges Bestehen feiern.

Strukturproblem bei Versorgung

Es gebe ein Strukturproblem bei der Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher, die Situation sei „wenig witzig“, diagnostizierte Professor Martin Bohus vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim bei der Feierstunde. Louisa* weiß, wovon er spricht. Die 18-Jährige hat eine Odyssee durch die Institutionen hinter sich und hofft, nach der Probezeit im Wohnprojekt bleiben zu dürfen. „Das hier ist meine einzige Hoffnung“, sagt sie. Mit 7 Jahren hat sie sich zum ersten Mal selbst verletzt, mit 10 landete sie wegen Essstörungen in der Psychiatrie. Während der schwierigen Trennung ihrer Eltern hatte sie innerhalb von fünf Monaten 30 Kilo abgenommen. „Ich habe den Haushalt geschmissen und abends um 19 Uhr meine Mutter gefragt, ob ich sie umarmen darf“, sagt sie. Ein Klinikaufenthalt folgte auf den nächsten, der stationäre Aufenthalt wurde Alltag. 15 Wohngemeinschaften hat sie besichtigt, keine hat gepasst. Louisa wurde zwangsernährt, für drei Jahre in eine Maßnahme in Spanien gesteckt, rutschte in die Medikamentenabhängigkeit.

Feste Tagesstrukturen und Regeln

Ihre Arme sind übersät von den Spuren ihrer Geschichte – kein leichtes „Ritzen“, sondern schwere Selbstverletzungen, nach denen Bluttransfusionen nötig waren. Eine 18-Jährige, die abgeklärt über ihre Selbstmordversuche spricht. „Man tut alles, um die Kontrolle nicht abgeben zu müssen“, sagt sie. Inzwischen wird Louisa von ihren Eltern unterstützt, aber: „Ich werde meiner Mutter nie verzeihen, dass sie mir Rasierklingen und Abführmittel gekauft hat.“ Ganz leise merkt sie nach einem langen Gespräch an: „Heute ist es nicht so gut“. Marion Willem, Teamleiterin der Intensivwohngruppe, weiß, welche Stunde dann geschlagen hat: Die der sogenannten Ambivalenz. „Wenn alles Vertrauen auf einmal wieder wie weggeblasen ist“, sagt sie. Vor dem Einzug steht eine sechswöchige Probezeit ohne Handy, ohne Kontakt zu Freunden und Familie, nur zwei Festnetztelefonate pro Woche sind erlaubt. Es geht um feste Tagesstrukturen und Regeln – was meist funktioniert. Bis plötzlich Zweifel kommen, die Sinnfrage gestellt wird. Das große Team – 14 Mitarbeiter kümmern sich um derzeit 13 Bewohnerinnen – behält auch dann die Nerven, wenn wieder Schnittwunden verarztet werden müssen. „Ich habe eine große Achtung vor den Mädchen, die sich diesem Kampf stellen“, sagt Willem.

Schwierige Familienverhältnisse

Gestartet hat die Kooperation zwischen CJD und Pfalzklinikum mit sieben Plätzen, wurde aber schnell erweitert. Die erste Gruppe war noch gemischtgeschlechtlich. Doch als ein Liebespaar nach Spanien türmte, fiel die Entscheidung: nur Frauen. 35 haben die Wohngemeinschaft durchlaufen, die meisten blieben zwischen eineinhalb und drei Jahren. Die Gruppe wird an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr betreut. Das gemütliche Wohnzimmer ziert eine große Fototapete mit der Skyline von New York, die Mädchen dekorieren ihre Zimmertüren mit Postkarten. Im ganzen Haus hängen noch hunderte knallbunte Kraniche, die eine Bewohnerin hinterlassen hat. Auch Shirin ist nach zwei Jahren ausgezogen. Seit vier Jahren lebt sie alleine. Wie viele Borderline-Patientinnen stammt sie aus einer schwierigen Familie. Mit 11 Jahren zog sie ins Kinderheim, später ins Internat. „Ich war tief in meinem Loch versunken“, sagt sie. Als sie im Sommer 2012 kam, begann die Arbeit. „Ich habe mir eine Liste mit Gedanken gemacht“ – nur weil jemand lacht, muss noch lange nicht sie ausgelacht werden. Noch während der Zeit in Germersheim hat Shirin ihr Freiwilliges Soziales Jahr im Altenheim absolviert und so ihren Weg gefunden. Eine starke junge Frau, die strahlt und anderen Bewohnerinnen Mut machen will. Heute ist Shirin gelernte Altenpflegerin, hat eine stellvertretende Stationsleitung übernommen. „Und es geht mir gut.“ *Namen von der Redaktion geändert

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