Bad Dürkheim Es „luthert“ allenthalben

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„Gedankenschmuggler“ Martin Graff hat sein Rüstzeug zur Sprengung der „Kopfgrenzen“ nach Wachenheim ins Protestantische Gemeindehaus geschleppt − Bücher, eine Collage und den Schlitten von Opa Erneste als Rednerpult. Passend zum aktuellen Reformationsjubiläum hatte ihn der Deutsch-Französische Freundeskreis Wachenheim – Cuisery „zum Grenzübertritt“ geladen, zur Lesung aus seinem Werk „Der lutherische Urknall“.

Gebürtiger Munstertaler, Journalist und evangelischer Pfarrer in Frankreich, RHEINPFALZ-Lesern wohlbekannt wegen seiner deutsch-französischen Kolumne „Zungenknoten“: So stellt ihn Gastgeberin Heike Rung-Braun vor. „Comme l’Allemagne“ ist der französische Titel seines aktuellen Buchs, weil diese Floskel in Frankreich täglich zu hören sei. Er beobachte dort eine „Faszination“ am ständigen Vergleich mit Deutschland. Seine heitere essayistische Analyse enthüllt Überraschendes, Komisches und Wahrhaftiges beiderseits der Grenzen. Sie fußt auf Luthers Anschlag seiner 95 Thesen an der Pforte der Wittenberger Schlosskirche, die vor 500 Jahren die Reformation einleitete. „Es ,luthert’ allüberall, in Wittenberg sowieso, sogar in Rom“, beschreibt Graff die Lage im aktuellen Jubiläumsjahr. Als Beleg präsentiert er einen Luther als Playmobilfigur und Schlüsselanhänger. In Frankreich hingegen „päpstele“ es. Kein Wunder, nur zwei Prozent sind Protestanten. Vor Weiterem zu Luther geht es dann erst einmal im Galopp durch Raum und Zeit. Von Ludwig XIV., der den Protestanten das Straßburger Münster entriss, zu zweisprachigen Gämsen in Schwarzwald und Vogesen. Kohl und Mitterrand Hand in Hand, Bises/Küsschen bei Merkel und Hollande. „Michel“ und „Marianne“ altern miteinander und bespötteln sich auch mal dabei. Den Irrsinn deutscher Sprachexzesse zeigt Graff genüsslich am Beispiel eines „Knöllchens“ für abgefahrene Winterreifen auf – Necken belebt die Partnerschaft. Kopfgrenzen aufzubrechen und gar nicht erst gedeihen zu lassen, darin sieht Graff unsere Verantwortung. Den Geburtsort könne man sich nicht aussuchen, doch „an der kulturellen Prädestination können wir was ändern!“, fordert er. Nachdenklichkeit verbindet der „Gedankenschmuggler“ mit spaßigen Denkmodellen. Diese süße Medizin täuscht nicht darüber hinweg, dass ihm eine Botschaft wichtig ist: der Erhalt der Freiheit. Oder wie es seine Oma Caroline so trefflich definierte: „Die Fahnen ja, aber nur als Tischdecke.“ Besonders Luther habe in diesem Sinne Energiemoleküle freigesetzt. Dem Thesenanschlag misst Graff die Wirkung eines Stimmzettels zu, gipfelnd in dem Recht, seine Meinung frei zu äußern. Mit Sprachen spielen, die Sichtweise verändern, den Blick ins Herz öffnen: Diese Botschaft gibt Graff den Gästen dreisprachig mit auf den Weg. Die Präsention dieser bunten Elementarteilchen macht Appetit auf die ganze Portion. Lesezeichen Martin Graff: Der lutherische Urknall − Die Franzosen und die Deutschen, Morstadt-Verlag 2015.

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