Ludwigshafen Steiß aus Stahl

Ohne Sitzfleisch geht da nichts: Wir fahren vom frühen Morgen bis zum bitteren Ende Straßenbahn – 18 Stunden in der Großwabe Ludwigshafen/Mannheim. Treffen dabei einen Superstar, na ja, fast jedenfalls. Und nehmen die kleinen Geschichten mit, die die Mitreisenden so erzählen. Von Daniel Krauser

Gegen 14.30 Uhr, beinahe zehn Stunden Straßenbahnfahrt auf dem Buckel, und es kommen die ersten Ausfallerscheinungen. Für einen kurzen Moment ist man jedenfalls der festen Überzeugung, Keith Richards wäre gerade an der Haltestelle „Dannstadter Straße“ in die Linie 1 Richtung Rheinau gestiegen. Keith trägt heuer ein entzückendes Ensemble aus kurzen Hosen, neongrünem Muskel-Shirt, weißen Socken in Sandalen und Edeka-Plastiktüte, rock on, Alter! Gut, dass sich Gisela* jetzt auf den Nachbarplatz setzt und ein Gespräch vom Zaun bricht – bevor die Visionen noch schlimmer werden. „Nix, nix, des is alles Scheiße“, sagt Gisela. Keith geht nach vorne ab. Gisela beginnt zu erzählen, was genau denn jetzt nix bis Kacke ist. Gelegentliche geistige Ausfälle seien einem verziehen. Man folgt hier einem ambitionierten Plan, bis zur Grenze der eigenen Leistungsfähigkeit: Straßenbahnfahren in Mannheim und Ludwigshafen, fast vom Dienstbeginn bis zum vorletzten Zug, um die 18 Stunden in der Großwabe. Man wird sich im Zugtakt von den Niederflurwagen der Tram verschlucken lassen, sich im Strom der Werktätigen, Passanten und Ausflügler bewegen, von der Vogelstang bis Oggersheim, von Schönau bis Rheingönheim. Tageskarte der Preisstufe 3: 6,40 Euro. Ein Steiß aus Stahl: unbezahlbar. Von wegen Strom der Werktätigen: Kurz nach fünf Uhr morgens hat man die unterirdische Straßenbahnhaltestelle am Ludwigshafener Hauptbahnhof für sich alleine. Gut: Den Ludwigshafener Hauptbahnhof hat man meistens für sich alleine. Und für den Umschlag der BASF-Wechselschicht ist es fast schon ein wenig zu spät: Fahrt mit der Linie 10 und drei müden Frauen mittleren Alters zum Berliner Platz, dort umsteigen in die Linie 7, die Richtung Oppau fährt – und sich dabei über weite Strecken entlang der Werksgrenze bewegt. Die immerhin ist in Ludwigshafen ziemlich stabil. Ansonsten ist mal wieder Umbruchszeit in Ludwigshafen, der Stadt, die anscheinend ständig an einem Ende abgerissen wird, während man sie am anderen neu aufbaut: Die Bahngleise auf der Konrad-Adenauer-Brücke werden gerade saniert, und deshalb fahren die Bahnen Richtung Mannheim über die neue Brücke – oder bleiben gleich hüben. Von Mitte August bis Mitte September wird auch die Haltestelle am Berliner Platz gesperrt, dann geht ein Stück Stadtgeschichte flöten: Die Ostfassade der runden „Tortenschachtel“ wird laut Pressemitteilung des Verkehrsunternehmens RNV „kontrolliert abgerissen“. Beruhigende Info, hatte man doch geglaubt, die würden beim Rückbau auf H-Bomben zurückgreifen. Die 7 füllt sich auf ihrem Weg durch die Ludwigshafener Innenstadt, den Blaumännern nach zu urteilen viele Mitarbeiter von Fremdfirmen. Ein BASF-Mitarbeiter in Zivil murmelt kurz vorm Aussteigen am Tor 7 etwas unfroh die Losung der Stunde: „Dann geh mer halt widder dra ...“ Die frühe 7 ist kein lauter Zug, wer vom Schlaf noch benommen ist, der will wohl keinen Lärm und macht auch keinen. Und wer von der Schicht kommt, der hat andere Plätze zum Parlieren als die Bahn: Der Kiosk an der Oppauer Wendeschleife nennt sich optimistisch „Gaststätte“, Kaffee ein Euro. Am Tisch rechter Hand eine Handvoll Schichtler bei der zweiten oder dritten Runde Feierabendbier. „Dann lach’ ich abber wie e Pferd!“, kommentiert einer irgendwelche betrieblichen Umstrukturierungen. Die anderen prosten Zustimmung: Schon wieder dem Kapitalismus die Maske vom Gesicht gerissen. Ist noch mal gutgegangen für den Typen im roten Kapuzenpulli: Der ist gerade, so gegen 7 Uhr, im morgendlichen Tran am Berliner Platz fast vor eine Bahn gelatscht, schrilles Klingeln der Bimmel, der Typ zuckt hektisch zurück. Normalerweise stünde in der täglichen Taktung der Fahrgastgruppen allmählich der frühe Schülerverkehr an, der fällt in der ersten Ferienwoche natürlich weg. Dafür gibt’s im Hauptbahnhof, wir warten auf die Linie 4, eine Gruppe zeitiger Ausflügler, die den ganzen Bahnsteig an ihrem wilden Leben teilhaben lassen: „Das war einen Tag vorm Ende meiner Bewährung“, sagt eine junge Frau, „und dann ist das mit dem verdeckten Ermittler passiert ...“ Halb neun, und es schlägt die Stunde der Senioren. Die ältere Dame, die gerade von Oggersheim auf dem Weg in die Stadt ist, will beim Begrüßen einer Bekannten entweder nett sein – oder sie beherrscht die hohe Kunst der verdeckten Nickligkeit: „Ich hab’ Sie gar nicht erkannt – so elegant heute.“ „Ach jo, ach jo, ach ne“, sagt die Angesprochene, nach Eigenaussage gerade auf dem Weg nach Mannheim. Da schließt man sich jetzt einfach mal an: Linie 4 bis zum Bahnhof Käfertal, dient auch der Aufarbeitung der eigenen Jugend. Die 4 hat man auf dem Schulweg immer bis zur Rohrlachstraße benutzt, und „Käfertal“, die Endhaltestelle, war da immer so etwas wie ein nie erreichter Sehnsuchtsort. Und das wäre sie auch besser geblieben: „Zur Vorstadt“ heißt eine Kneipe, die man kurz vor der Wendeschleife passiert, das bringt die Dinge da oben schonungslos auf den Punkt. Obacht: Wenn dieser Artikel erscheint, fährt die 4 für eine gute Woche nur noch bis zur Uni-Klinik, von wegen Anschluss Stadtbahn Nord. Um nicht zu mäkelig zu werden: Wer nach 30 Jahren mal wieder Straßenbahn fährt, merkt, wie gut organisiert das Straßenbahnfahren in der Region inzwischen ist. Zehn-Minuten-Takt bis gegen 20 Uhr, an vielen Haltestellen informieren Anzeigetafeln in Echtzeit über das Kommen der nächsten Bahn. Und wer in den letzten Jahrzehnten woanders in der Welt Straßenbahn gefahren ist, merkt, welches Glück er hat, in einer Region mit gut ausgebautem Straßenbahnnetz zu wohnen: knapp 100 Kilometer in Ludwigshafen und Mannheim, 80 Millionen Fahrgäste pro Jahr, die im Durchschnitt pro Fahrt drei Kilometer mit der Bahn zurücklegen. In Stockholm gibt’s in der Innenstadt gerade mal eine Straßenbahnlinie. Rom hat nach Streckenstilllegungen nur noch 40 Kilometer Tramstrecke. In vielen europäischen Städten, Straßburg ist ein Beispiel, hat die Straßenbahn erst in den 1990er-Jahren eine Renaissance erlebt – mit Millionenkosten für den Neubau von Netzen. Wer heute dem Liniennetz der Elektrischen folgt, das in den beiden Schwesterstädten ab 1900 gebaut wurde, der folgt im Grunde den Kennlinien der Stadtentwicklung – und erschließt sich urbane Strukturen. Man muss kein Experte in Mannheimer Industriegeschichte sein, um zu ahnen, dass die Baumstammstapel links der Linie 1 in Höhe Waldhof wohl etwas mit den Zellstoff- und Papierfabriken rechts der Linie 2 Richtung Sandhofen zu tun haben. Man muss nicht wissen, dass die frühe Verlängerung des Mannheimer Liniennetzes Richtung Norden in engem Zusammenhang mit der Ansiedlung von Industriebetrieben stand: Man kann einfach dem Gespräch der beiden Jugendlichen in der Linie 1 lauschen, die sich über mögliche Arbeitgeber unterhalten – und nahe Luzenberg zum Resümee „Benz is am beschde“ kommen. In der Straßenbahn erlebt man Mannheim in erster Linie als Industriestadt – und sei’s bloß, weil man zum ersten Mal die erstaunliche Dichte an Kiosken registriert, die der im Ruhrgebiet Konkurrenz macht. Als Alternative zu den Schäfchen kann man die Häuschen sogar zählen, zwischen den Nummern fünf und sechs kommt der Schlummer. An der Haltestelle Dannstadter Straße schreckt man hoch, sieht im Halbschlaf Keith Richards – und lässt sich von Gisela erklären, warum das alles nix ist. Giselas Gatte hat diverse Lendenwirbeloperationen hinter sich, 45 Jahre auf dem Bau, da darf man sich nicht wundern. Der Gute kann kaum noch laufen, ist auf Schmerzmittel angewiesen und verlässt angeblich kaum noch die Wohnung. „Na ja“, schwächt Gisela die Kritik an ihrem Gatten ab, „ich hab’ ja nix.“ Eben: Wer nix hat, hat leicht Kacke sagen. Was die sieben Schwarzen so sagen, zwischen denen man auf der Linie 3 Richtung Rheingoldhalle eingeklemmt ist, ist nicht zu ergründen: Die Jungs sprechen ein ziemlich bizarres Pidgin, den Begriff „Surfboard“ hat man jetzt verstanden, wenn der auf Afrikanisch wirklich dasselbe heißt wie auf Deutsch. An der Haltestelle „Tannhäuserring“ gibt’s ein kleines Beziehungsdrama: „Du kannscht jetzt laafe, wuhi du willscht“, herrscht ein Typ mit Halbglatze seine Frau/Freundin an. Die Frau geht stumm ab nach rechts, der Typ nimmt die Bahn Richtung Paradeplatz. Über den Fahrplan an der Haltestelle hat irgendjemand mit Filzstift geschmiert: „Scheiß Asylbewerber machen Dreck + klauen u. morden.“ Yo, Arschloch: Genau in der Reihenfolge. Es geht gegen Abend, am Paradeplatz steigt eine Gruppe junger Frauen mit Instrumentenkoffern in die 5 Richtung Edesheim. Könnte auf ein nahes Konservatorium deuten, ersatzweise eine Berufsschule für Bankraub. Gibt wieder reichlich Splitter aus dem Leben der anderen auf der Fahrt: Der blonde Student links hinten mokiert sich ziemlich laut und ziemlich vulgär über das Liebesleben eines gewissen Carsten*, der Heike* gepoppt, Sandra* gepimpert und Aische* genagelt hat, was wohl die Neue im Proseminar von ihm hält? Jesus kam nur bis Eboli, die 5 heuer nur bis zur Haltestelle Pforzheimer Straße, Ersatzbusverkehr ab Neuostheim. Auf dem Rückweg in die Mannheimer Innenstadt steigen ziemlich viele junge Menschen zu, später „shopping spree“, früher Zug zur Theke des Vertrauens, schwer zu sagen. Vogelstang fehlt noch, kleine Tour zur Trabantenstadt auf der grünen Wiese: Vorbei an Hauptfriedhof und Sportpark, Biege um Wallstadt, letztes Stück über freies Feld – alles, um in einer Betonröhre unter dem „Vogelstangcenter“ zu landen, bedrückende 60er-Jahre-Beton-Architektur. Liebe Vogelstang: froh, wieder weg zu sein. Kurz vor 23 Uhr am Paradeplatz in die Linie 4, für die vorletzte Bahn geht das hier eigentlich ganz gesittet zu. Gut: Der blonde Typ auf dem Nachbarsessel ist bekifft – aber ansonsten steigen nur noch zwei Herren mit Schlagseite zu. Beide am Pfalzbau, vielleicht einfach berauscht vom Kulturgenuss. Läuft alles ganz geschmeidig aus. Und dann steigt Mick Jagger zu.

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