Landau Selbsttötungen für Polizei ein heikles Thema

Die rasant steigende Zahl an Suiziddrohungen hält die Polizei in Atem. Besonders auf Facebook kündigen viele ihren Tod an. Dabei haben die Beamten mit den tatsächlichen Selbstmorden schon genug zu tun – und geraten dabei oft an ihre Grenzen.

Daran wird sie sich wohl nie gewöhnen. Wenn Helena Scherer zu einem Suizid gerufen wird, ist das belastender als ihre sonstigen Aufgaben als Polizeikommissarin in Landau. Ein unruhiges Gefühl stellt sich gleich nach dem Notruf ein. Es beschleicht die junge Polizistin auch nach einigen Berufsjahren jedes Mal wieder aufs Neue. Diese Anrufe sind Alltag: Deutschlandweit gibt es mehr Selbstmorde als Verkehrstote. Die Südpfalz ist da keine Ausnahme. Kein Notruf ist wie der andere: Mal macht sich ein Anrufer Sorgen, weil in der Wohnung gegenüber der Briefkasten überquillt. Ein anderes Mal rufen Angehörige an, weil sie einen Abschiedsbrief gefunden haben. Dann wieder melden Anrufer einen Verletzten oder Toten. „Man weiß noch nicht genau, was passiert ist“, schildert Helena Scherer ihre Gefühlslage. „Dann fährt man hin und spielt in Gedanken die möglichen Szenarien ab, die einen vor Ort erwarten könnten.“

Jährlich töten sich etwa 10.000 Menschen in Deutschland

39 Personen haben sich im vergangenen Jahr in der Südpfalz umgebracht – im Straßenverkehr sind im selben Zeitraum 15 Personen ums Leben gekommen. Damit unterscheidet sich das Jahr nur geringfügig von seinen Vorgängern, was die Selbstmorde betrifft. Zu den Suizidopfern zählten das 14-jährige Mädchen, das sich das Leben nahm, nachdem es in der Schule gemobbt worden war, der Künstler, der sich mitten im Dorf in Brand steckte, das alte Ehepaar, das erst nach Tagen in seiner Küche entdeckt wurde, oder der Mann, der sich im Weinberg erschoss. Die Region liegt ziemlich exakt im landes- sowie bundesweiten Durchschnitt. Jährlich töten sich etwa 10.000 Menschen. Sie erhängen sich oder stürzen sich in die Tiefe, vergiften oder erschießen sich. Manche werfen sich vor einen Zug oder ein Auto. Andere schlitzen sich die Pulsadern auf oder verbrennen sich bei lebendigem Leib. Die meisten Selbstmörder sind zwischen 55 und 60 Jahre alt, zwei Drittel davon sind Männer.

Nicht jeder Suizidversuch ist bekannt

Stark zugenommen hat in den vergangenen Jahren die Zahl der Selbstmorddrohungen. Für die Polizei ist das ein echtes Problem, denn sie muss jedem Verdacht nachgehen. „Gerade auf Facebook kündigen viele an, sich etwas anzutun“, berichtet Thomas Sommerrock, Leiter der Polizeidirektion Landau. „Da das dann meist der gesamte Freundeskreis liest, ist die Aufregung jedes Mal groß.“ Aber nicht jeder Suizidversuch ist der Polizei bekannt. Und nicht jeder ist als Solcher immer erkennbar. War ein Verkehrsunfall Zufall oder Absicht? Auch kommt nicht jede Selbsttötung an die Öffentlichkeit. Denn die Polizei hält sich bei dem Thema zurück – aus Pietätsgründen und aus Sorge vor Nachahmern.

Jeder Tote ist ein Fall für die Kriminalpolizei

Für die Polizisten sind Selbstmorde extrem belastend. „Umso mehr, wenn Familie oder Freunde des Opfers am Tatort sind“, erzählt Andreas Freudenmann, Landauer Polizeikommissar und als Sachbearbeiter für Todesermittlungen in der Südpfalz zuständig. Bis ein psychologischer Helfer eintrifft, müssen die Beamten am Tatort Beistand leisten. Besonders schwer fällt dies, wenn sich Kinder das Leben genommen haben. Ein Team des Roten Kreuzes unterstützt die Polizisten. Bis an einem Tatort alle Spuren gesichert sind, vergehen zwei bis drei Stunden. Jeder Tote ist auch ein Fall für die Kriminalpolizei – ein Verbrechen muss schließlich ausgeschlossen werden. In der Südpfalz übernehmen diese Arbeit die beiden Kriminalhauptkommissare Manfred Wohl und Manfred Öxler, die am Tatort auf Spurensuche gehen.

Solche Erlebnisse brennen sich im Gedächtnis ein

Auch Krankenwagen, Notarzt, Kriminalpolizei und Bestatter werden alarmiert. Doch oft genug müssen die herbeigerufenen Polizisten selbst Hand anlegen, müssen Menschen, die sich an einem Strick von einer Brücke gestürzt haben, Meter für Meter hochziehen. Noch schwieriger ist es, wenn sich ein Selbstmörder vor einen Zug geworfen hat und die Leichenteile weit verstreut sind. Manchmal hilft die Feuerwehr oder ein Bestatter beim Einsammeln. Solche Erlebnisse brennen sich im Gedächtnis ein. Zwar lassen sich auch die Bilder von tödlichen Verkehrsunfällen nur schwer verarbeiten, doch Suizide sind anders. „Diese Menschen haben sich Gedanken darüber gemacht, wie sie sterben wollen“, beschreibt Helena Scherer. „Das ist kein Zufall, sondern lange geplant. Da kommt man schon ins Grübeln: Was geht in denen vor?“ Andere Kollegen bestätigen diese Erfahrung.

Polizisten sind laut Studie besonders suizidgefährdet

Werden die Polizisten mit den grausigen Erlebnissen nicht fertig, können sie sich an ein Kriseninterventionsteam wenden. Dessen Leiter, Oberpsychologierat Frank Hallenberger, erläutert: „Das Kriseninterventionsteam ist praktisch eine schnelle Eingreiftruppe, rund um die Uhr anrufbar.“ Es besteht aus Psychologen, Sozialberatern und Seelsorgern und ist zuständig für das erste Gespräch und die längere Begleitung nach einem Einsatz. Laut Innenministerium wird es rund 30-mal pro Jahr gerufen, wobei es regional große Unterschiede gibt, wie Hallenberger einräumt. Zudem steht Polizisten in jeder Direktion mindestens ein Berater zur Seite. „Vor 20 Jahren waren nur wenige Polizisten bereit, Hilfe anzunehmen“, erinnert sich Hallenberger. Heute sei das zum Glück anders. Und dennoch: Ausgerechnet Polizisten sind laut einer US-amerikanischen Studie besonders suizidgefährdet. Da sich Bestattungsunternehmen um Suizidtote nicht gerade reißen, arbeitet die Landauer Polizei mit zwei Vertragsbestattern zusammen. Diese müssen im Notfall auch nachts anrücken, auch an Feiertagen. Denn wann ein Notruf eingeht, wissen weder sie noch die Polizisten, die gerade Dienst haben. Sicher ist nur: Im Schnitt passiert es alle neun Tage. Für Menschen, die unter Suizidgedanken leiden und deren Angehörige gibt es zahlreiche Beratungs- und Hilfsangebote.  Vor Ort unterhalten meist Gemeinden, Kirchen und Verbände wie Pro Familia oder Caritas sozialpsychiatrische Dienste, an die man sich wenden kann. Deutschlandweit erreichbar ist zudem die Telefonseelsorge (Tel. 0800 / 1110111). Familien und Freunde erhalten beispielsweise beim Verein "Agus e.V. - Angehörige um Suizid" Unterstützung (www.agus-selbsthilfe.de).

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