Landau Der bürgerliche Rebell

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Heiner Geißler wird heute 85 Jahre alt. Seit 1980 lebt der Christdemokrat in der Südpfalz, war 22 Jahre lang ihr Bundestagsabgeordneter. Seine Freunde machen sich Sorgen, weil alle Termine abgesagt wurden. Der Jubilar muss sich schonen. Sabine Schilling sprach mit ihm über Einsichten und Aussichten.

Herr Geißler, 85! Wie geht es Ihnen?

Mir geht es gut. Im Moment muss ich mich von einer Virusinfektion erholen. Wie halten Sie sich fit? Steigen Sie auf den Hometrainer oder gehen Sie ab und an ins Fitness-Studio? Nein, weder das eine noch das andere. Ich gehe in den Pfälzerwald. Und ich schreibe Bücher. Das dient doch nicht der körperlichen Ertüchtigung, oder? Nein, aber der geistigen. Sie haben viel Sport gemacht, sind oder waren Skifahrer, Kletterer, Gleitschirmflieger. Was von all dem tun Sie heute noch? Skifahren und Klettern. Gleitschirmfliegen könnte ich zwar noch, aber da müsste ich mehr üben. Man kann nicht im Sommer mal sechs Wochen fliegen, sondern braucht – wie jeder andere Pilot – eine regelmäßige Flugpraxis. Das kriege ich zeitlich nicht hin. Wie oft sind Sie denn zu Hause, in Gleisweiler? Sie sind ja viel unterwegs. Das ist meine Heimat. Ich wohne hier. Mit Ausnahme, wenn ich Vorträge halte oder Lesungen. Das kostet mich immer einige Tage. Ich bin auch im Ausland unterwegs. Die Berliner sind die Antipoden der Südpfalz, die liegen fast in Sibirien, im Nordosten, wir hier im Südwesten. Sie sind ein gefragter Gesprächspartner, treten in Talkshows auf im Fernsehen, bei Diskussionsveranstaltungen, halten Vorträge. Welches Format ist Ihnen denn das liebste? Da habe ich keine Priorität. Ich bin dabei, wenn es gewünscht wird und mache das auch sehr gerne. Sie haben viele Persönlichkeiten getroffen bei diesen Gelegenheiten, auch Menschen mit Einfluss. Welche Begegnung hat Sie am meisten beeindruckt? Ich habe in der Politik keine Vorbilder. Jean Ziegler ist ein mutiger Mann. Er ist bei der Uno, hat sich in der Schweiz mit dem Establishment angelegt. Oder Rupert Neudeck von Cap Anamur. Beeindruckt hat mich Richard von Weizsäcker, auch Michail Gorbatschow, der eigentliche Vater der deutschen Einheit. Ich habe gute Freunde wie den Erwin Teufel. Im Grunde genommen beeindrucken mich alle mutigen, intelligenten Leute. Denken Sie an Ruhestand? Na, das gibt es nicht für mich. Was soll ich denn da machen? Ich habe einen großen Garten, in dem arbeite ich ganz gerne, aber das kann doch nicht alles sein. Sie haben ja auch einen Weinberg. Ich habe auch einen Weinberg. Welche Sorten bauen Sie an? Das ist ein kleiner Weinberg, 500 Quadratmeter, ein Drittel Silvaner, zwei Drittel sind Rieslinge. Und die Weine trinken Sie auch am liebsten? Das kann man nicht sagen. Also, ich finde, in der Südpfalz wachsen andere Trauben genauso gut, wenn nicht sogar noch besser. Im Edenkobener Bereich ist es der Silvaner. Rieslinge wachsen eigentlich am besten bei mir unterhalb der Kapelle, Gleisweiler Hölle. Es gibt auch sehr gute Weißburgunder, Gewürztraminer, Chardonnays. Die neuen Trauben aus Frankreich haben bei uns ein gutes Klima und auch einen guten Boden. Man muss nicht nur Rieslinge trinken. Herr Geißler, Sie sind nie zimperlich umgegangen mit dem politischen Gegner und waren selbst ja auch oft Zielscheibe beißender Kritik. Können Sie um Verzeihung bitten? Also, wenn ich jemanden beleidigt habe, ihm wehgetan habe, dann mache ich das auch. Und können Sie auch verzeihen? Oder sind Sie nachtragend? Nein, ich bin nicht nachtragend. Wenn man sich in die Politik begibt, dann muss man mit solchen Sachen rechnen. Ich habe mich immer sehr klar und entschieden auseinandergesetzt mit politischen Inhalten, auch mit politischen Bewegungen, und klar meine Meinung gesagt. Aber ich habe nie jemanden persönlich beleidigt. Da fällt mir gar nichts ein. Mit Ausnahme von einem vielleicht, aber das habe ich längst wieder gutgemacht. Ich habe Helmut Schmidt 1978 vorgeworfen, er sei ein Rentenbetrüger. Weil er bei seinem Regierungsantritt 1976 versprochen hatte, die Renten zu erhöhen. Das hat er dann nicht gemacht. Aber das habe ich nicht wiederholt. Das war eine persönliche Beleidigung für eine politische Entscheidung, für die er ja auch die Verantwortung trägt. Haben Sie sich ausgesprochen mit Schmidt? Ja, habe ich. Das ist kein Problem gewesen. Als Generalsekretär habe ich mich zu vielen Themen deutlich geäußert, aber nicht andere Menschen herabgesetzt. Sie arbeiten an einem neuen Buch und fragen sich, was Luther heute zur gesellschaftlichen Entwicklung sagen würde. Nein, was er heute sagen müsste. Okay. Was würden Sie denn tun, wenn Sie heute als junger Mann, als junger Politiker noch einmal die Chance zu einem Neuanfang hätten. Was wäre Ihnen besonders wichtig? Dass wir mit einer Verbindung der demokratischen Freiheitsrechte, die wir haben, der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit, der Demonstrationsfreiheit, eine politische Bewegung zustande bekommen, die das jetzige Wirtschaftssystem, von dem der Papst Franziskus ja sagt, diese Wirtschaft tötet, ersetzt durch eine internationale, soziale und ökologische Marktwirtschaft. Das wäre ein revolutionärer Prozess. Den würde ich gerne organisieren. Zweitens würde ich in die Gegenden fahren, in denen die Menschenrechte, vor allem die Frauenrechte, besonders verletzt werden, Nordafrika und der Nahe Osten. Sie würden auch nach Saudi-Arabien fahren? Ja. Eigentlich müsste die Bundesregierung die diplomatischen Beziehungen zu Saudi-Arabien abbrechen. Die sind ja nicht viel besser als der IS, was die Verletzung von Menschen- und Frauenrechten angeht. Würden Sie überhaupt noch einmal in die Politik gehen wollen oder doch einen anderen Beruf ergreifen? Och, ich wollte immer Bergführer werden, Skilehrer. Das hätte ich gerne gemacht, aber ich glaube nicht, dass das zu einer Hauptaufgabe geworden wäre. Wir haben schon darüber gesprochen, was Ihnen als junger Politiker heute wichtig wäre. Was ist das politische Vermächtnis des Heiner Geißler? Jeder Mensch denkt über den Sinn des Lebens nach, wenn er zurückblickt. Manche können an Gott glauben, manche nicht, verzweifeln deswegen vielleicht. Ich habe mich mein ganzes Leben dafür eingesetzt, die Lebensbedingungen anderer Menschen zu verbessern. Das kann jeder tun. In der Familie, dass die Ehemänner endgültig und überall darauf verzichten, Frauen zu schlagen, dass man Menschen hilft, die in Not sind. Das ist der Inhalt des evangelischen Gebots der Nächstenliebe. In dem Zusammenhang – Lebensbedingungen zu verbessern – heißt das aber auch, dass wir öffentliche Aufgaben nicht privatisieren dürfen. Die Ökonomisierung unserer Gesellschaft ist eine Fehlentwicklung. Es gibt Aufgaben, die nicht nach den Gesetzen der Gewinnmaximierung organisiert werden dürfen. Krankenhäuser, Sozialstationen und ähnliches. Das spukt vielen Kommunalpolitikern in den Köpfen herum, weil sie glauben, sie könnten Geld sparen. In Wirklichkeit wird Geld vernichtet und die Bedingungen der Menschen, die auf diese Einrichtungen angewiesen sind und die dort arbeiten, werden immer schlechter. Für Veränderungen brauchen Sie Mehrheiten. Daran scheitern sie zuweilen, so sinnvoll die Ideen auch sein mögen, oder? Sie müssen Bündnisse schließen. Und eine Politik machen, die Mehrheiten bekommt. Das ist ein Grund, warum ich in der CDU bin. Ich habe in der Südpfalz immer eine Mehrheit gehabt. Aber das kommt nicht von selbst. Der Abgeordnete arbeitet für alle Bürger. Klientel- oder Cliquen-Parteien sind heute nicht in der Lage, Probleme zu lösen, sondern nur Volksparteien. Haben Sie ein Lebensmotto oder eine Losung, die Sie Ihren Söhnen und Enkeln weitergegeben haben? Wichtig ist, dass man in der Familie zusammenhält und sich aufeinander verlassen kann, seinen Job so gut als möglich ausfüllt. Und dass man sich engagiert, das ist ganz wichtig. Ob im Sport oder für größere Ziele, bei der Caritas, der Diakonie oder in einer politischen Partei. Dass die Parteien immer wieder in Misskredit kommen, ist ein großer Fehler. Es gibt keine Demokratie ohne politische Parteien. Dazu zählt auch, das Wahlrecht zu nutzen. Wir haben in der Südpfalz einige Wahlen vor uns, Verbandsbürgermeister in Herxheim und Bad Bergzabern, Oberbürgermeister in Landau, nächstes Jahr Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz. Viele machen sich Gedanken über die weiter sinkende Wahlbeteiligung. Das Wahlrecht ist ein hohes Gut. Über die Hälfte der Weltbevölkerung wünschte sich, sie hätte ein Wahlrecht. Das ist über Jahrhunderte hindurch erkämpft worden. Aber es kommt natürlich auch darauf an, dass die politischen Mandatsträger dazu beitragen, dass die Menschen ihnen vertrauen können. Interessiert Sie die Landesgartenschau in Landau? Die würde mich schon interessieren, wenn sie mal endlich steht. Nun, in 45 Tagen soll es losgehen. Ich werde mit Sicherheit dort vorbei schauen. Was haben Sie sich für Ziele fürs neue Lebensjahr gesetzt, außer, dass Sie Ihr Buch zu Luther beenden? Das ist das Wichtigste jetzt, dass ich mit dem Buch fertig werde. Es erscheint hoffentlich im Mai. Bis dahin muss ich noch daran arbeiten. Gibt es einen Gipfel, den Sie noch erklimmen möchten? Ja, anschließend suche ich zusammen mit meinen Söhnen einen aus. Nach Möglichkeit klettern wir zu viert. ZUR PERSON Heiner Geißler Heiner Geißler wurde am 3. März 1930 in Oberndorf am Neckar geboren. Er vertrat die Südpfalz von 1980 bis 2002 als direkt gewählter Abgeordneter im Deutschen Bundestag. Geißler war im Bundesvorstand der CDU, Landesminister, Bundesminister, CDU-Generalsekretär und Schlichter. Der begnadete Redner war oft unbequem für die eigene Partei. Er ist Autor zahlreicher Bücher und mischt sich bis heute in gesellschaftspolitische Debatten ein. Geißler ist Ehrenmitglied der CDU im Kreis Südliche Weinstraße, Vorsitzender des Verwaltungsrates der Ökumenischen Sozialstation Edenkoben-Herxheim-Offenbach und Vorsitzender des Südpfälzer Gleitschirmflieger-Clubs. (sas)

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