Neustadt Napoleons Zinkbadewanne und ein Ministaat

«Neustadt». Neuland – im wahrsten Sinne des Wortes – betritt, wer das Buch „Niemands Land. Die unglaubliche Geschichte von Moresnet, einem Ort, den es eigentlich gar nicht geben durfte“ des niederländischen Autors Philip Dröge liest. Denn das tortenstückförmige Land von gerade mal 3,4 Quadratkilometer Größe, das von 1816 bis 1920 mitten in Europa existierte, dürfte den meisten Menschen unbekannt sein.

Mit einem kleinen, leicht untersetztem Herrn und seinem großem Reinlichkeitsbedürfnis beginnt im Jahr 1809 die Geschichte. Napoleon Bonaparte liebt die Zinkbadewanne, die der Erfinder Jean-Jacques Daniel Dony ersonnen hat. Stundenlang kann er darin planschen, dabei Briefe diktieren, Unterlagen durchsehen oder Zeitung lesen. Ohne dass das Badewasser in dieser Zeit kalt wird. Der Clou: An der Rückseite der Wanne befindet sich ein Metallzylinder mit glühenden Holzkohlen, der über zwei Rohre mit der Wanne verbunden ist und mittels eines ausgeklügelten Systems Wasser ansaugt, erhitzt und wohltemperiert wieder in die Wanne entlässt. Der bekanntlich äußerst verfrorene Napoleon möchte die leichte und zerlegbare Wanne nicht missen, nimmt sie sogar auf seine Feldzüge mit – auch nach Russland. Ein weiterer Clou: Die Wanne ist aus Zink. Das graue Metall ist zwar seit dem Altertum bekannt, so richtig in größeren Mengen wird es aber erst im 19. Jahrhundert hergestellt. Laienpriester Dony hat im Labor mit dem so genannten Reduktionsofen eine neue, revolutionäre Methode zur Gewinnung des rostfreien Zinks entwickelt. Ein bedeutendes Zinkspat-Vorkommen befindet sich auf dem dünn besiedelten Landstrich zwischen Aachen und Lüttich nahe des Dorfes Kelmis in der Gemeinde Moresnet. Wem wird die Mine dort nach Waterloo zugeschlagen: Preußen oder den Niederlanden? Es folgt eine pfälzische Fußnote: Beim Wiener Kongress verhandelt der im Schloß in Kleinniedesheim geborene Freiherr Hans Christoph von Gagern – auch unter Einsatz beträchtlicher Mengen Weins aus dem eigenen Keller – als Vertreter Königs Wilhelm I. der Niederlande über die Neugestaltung Europas mit. Beim Ziehen der neuen Grenzen bleibt eine kleine Lücke, über die sich Preußen und die Niederlande auch nach 60 Treffen nicht einigen können. Das Problem wird vertagt und danach immer wieder. 256 Menschen leben anfangs in Neutral-Moresnet, darunter auch Schwarzbrenner und -händler, die sich den mühelosen Grenzübertritt von allen Seiten zunutze machen. Auffallend viele junge Männer aus Preußen und den Niederlanden lassen sich in Kelmis in den ersten Jahren vom Bürgermeister registrieren. Sie drücken sich in dem neutralen Ländchen vor dem Wehrdienst. Mit der Zeit floriert der Staat im Westentaschenformat. „Fünf Jahrzehnte nach seiner Entstehung ... nehmen die Menschen das Waisenkind des Wiener Kongresses langsam als eigenes Land ernst“, schreibt Dröge. Über 4600 Menschen werden Ende des 1. Weltkriegs dort leben. Vorweggenommen wird hier die multikulturelle Gesellschaft: Etwa 40 Prozent Deutschsprachige, 30 Prozent Belgier und zehn Prozent Neutrale leben 1869 dort. Der Rest setzt sich aus Anderssprachigen wie Schweizern, Franzosen und Amerikanern zusammen. Mit seinen Grenzen und Gesetzen, einem als Staatsoberhaupt fungierenden Bürgermeister und seiner Polizei (auch wenn die Exekutive nur aus einem einzigen Gendarmen besteht) ist es nach eigenem Verständnis – und in der Praxis – ein eigenes Land. Warum es mit Esperanto als gemeinsamer Sprache nichts wurde, was es mit dem großen Briefmarkenkrieg auf sich hat und wie es mit Neutral-Moresnet zu Ende ging, sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur soviel: Das Buch, ein Bestseller in den Niederlanden, ist eine gelungene Mischung aus Roman und Sachbuch, detailliert, witzig und spannend zugleich geschrieben. Geschichte, die gut rübergebracht wird. Und Napoleons Zinkwanne? Sie hat – im Gegensatz zum Ministaat im Herzen Europas – bis heute überlebt. Lesezeichen Philipp Dröge: Niemands Land. Verlag Piper, 288 Seiten, 22 Euro.

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