Ludwigshafen Crashkurs fürs Weltende

Religiöser Wahn, unterdrückte Sexualität: jeder Raum bietet neue Überraschungen.
Religiöser Wahn, unterdrückte Sexualität: jeder Raum bietet neue Überraschungen.

Religiöser Wahn, unterdrückte Sexualität, Gewalt, Weltuntergang: Die Performance-Installation „Das Heuvolk“ des dänisch-österreichischen Künstlerduos Signa für die Schillertage ist ein sechsstündiger Parforceritt durch das verstörende Innenleben einer ekstatischen Endzeit-Sekte, aber auch eine lehrreiche Studie über Gruppendynamik und Selbsterfahrung.

Willkommen Schwester. Wie ist dein Name?“ Sanft ziehen die Mitglieder der Gruppe, die sich selbst „Himmelsfahrer“ nennen, ihre 60 Besucher ins Innere ihres Hauses. Die Frauen tragen schwarze lange Kleider und Haarschleier, die Männer weiße Hemden und schwarze Hosen – so ähnlich wie die Amish. Die Fenster sind mit schweren Vorhängen verhängt, aus altmodischen Lampen leuchtet schummriges Licht. Es riecht nach Mottenkugeln, Großmutter-Parfüm und abgestandener Luft. Dieser Geruch ist das I-Tüpfelchen einer perfekt durchkonzipierten Welt. Die befindet sich in einem ehemaligen Kasernengebäude auf dem Mannheimer Benjamin-Franklin-Village, das als Heimstätte dieses ominösen Kults einen durchaus passenden Ort abgibt. Der Prediger Jake Wolcott hat sein Gefolge hierher gebracht. Durch Visionen will er erfahren haben, dass das Ende der Welt nahe sei. Für die Auserwählten soll dann ein Himmelsschiff bereit stehen, dass sie in ihre neue Heimat bringt. Doch Wolcott ist vor einem halben Jahr gestorben, was seine Anhänger traurig und verstört zurücklässt. Der Sektenführer ist jedoch allgegenwärtig: Sein Porträt hängt sogar auf der Toilette. Die Gruppe glaubt an Erdkerngötter, die sich in ausgewählten Mitgliedern manifestieren. Für jede Gottheit gibt es einen Schrein, erfahren die Besucher in einem Crashkurs über die Wolcott-Ideologie. Aber wer ist das Heuvolk? „Das seid ihr“, erklärt eine junge Frau mit verklärtem Lächeln. „Ihr seid leicht entzündlich.“ Sprich: Wenn das Ende kommt, werden wir brennen. Doch es gibt Hoffnung. Unter dem Heuvolk könnten neue Himmelsfahrer sein, das werde sich bei der Schlusszeremonie offenbaren. Und so wandeln die Besucher frei durch dieses unheimliche Panoptikum – und werden Teil der Performance. Im Schrein der „Fever Lady“ liegt eine Frau auf dem Bett, ihre Vagina nur durch einen Waschlappen bedeckt. Auf ihrem Bauch stehen vier Schnapsgläser. „Ihr müsst den Inhalt trinken und dann in meinen Bauchnabel spucken“, befielt sie. Alle folgen der Anweisung. Signa macht immersives Theater: Der Zuschauer muss in die kreierte Welt eintauchen, sonst macht ein Besuch eigentlich keinen Sinn. Das mag nicht jedermanns Sache sein. Immerhin kann jeder selbst entscheiden, bis zu welchem Grad man mitspielt, auch Widerspruch ist erlaubt. Die Himmelsfahrer sind keine Hardcore-Missionierer, sondern bereit zur Diskussion. Die Gespräche mit einzelnen Walcott-Jüngern bieten immer mehr Einblick in die Gruppe. Eine ausgeklügelte Vita der einzelnen Figuren, bis ins Detail abgestimmte Kulissen und Soundtechnik sowie der immersive Aspekt sind das Markenzeichen von Signa und Arthur Köstler. 2015 zeigte das Duo in „Söhne & Söhne“ einen verstörenden Blick in die Arbeitswelt, in „Wir Hunde“ veranstaltete es 2016 einen Tag der offenen Tür in einem Tierheim für Menschen, die sich für Hunde halten. Diese strukturellen Parallelen machen „Das Heuvolk“ ein Stück weit vorhersehbar, nehmen aber nichts von der physischen und psychologischen Wucht. Die schauspielerische Leistung des Ensembles ist mitreißend. Wie ein überladenes Bordellzimmer wirkt der Schrein des „Peacock Man“, dem gleich drei menschliche Hüllen zur Verfügung stehen. Um die Gottheit anzulocken, wird der eine – nur mit Unterhosen bekleidet – mit Gardinenkordeln gepeitscht. Das ist nur schwer zu ertragen, doch den Raum verlässt niemand. Der Schrein der „Lady of one hundred Birds“ ist ein Alptraum aus Pastelltönen und ausgestopften Vögeln, in dem eine ältere Dame vergebens darauf wartet, dass die Göttin wieder in sie fährt – stets beobachtet von ihren drei Dienerinnen, die alle selbst gern die Hülle wären und sie schon mal mit Hilfe der Besucher zwangsernähren. Unter der zuckersüßen Nettigkeit der Himmelsfahrer brodelt eine gefährliche Mixtur aus Eifersucht, unterdrückter Lust, sexualisierter Gewalt und religiösem Eifer. Doch das erfährt nur, wer sich auf das Spiel einlässt. Dann vergehen die sechs Stunden wie im Flug. Schon nehmen die Himmelsfahrer ihre Besucher bei der Hand und führen sie in die Kapelle zur Schlusszeremonie mit Mantra-Singsang. Ein paar vom Heuvolk spüren tatsächlich Jake Wolcotts Ruf und sind bereit, sich unter dem Jubel seiner Jünger zu entkleiden. Die übrigen werden sanft, aber bestimmt hinaus komplimentiert.

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