Wissen Bluthochdruck: Ärzte setzen lieber auf Pillen statt Bewegung

Das Herz schickt das Blut mit Druck durch den Körper: Es zieht sich zusammen und presst 4 bis 5 Liter pro Minute aus der linken
Das Herz schickt das Blut mit Druck durch den Körper: Es zieht sich zusammen und presst 4 bis 5 Liter pro Minute aus der linken Kammer in die Hauptschlagader. Das zeigt der systolische Blutdruckwert an. Danach erschlafft das Herz – der diastolische Blutdruck. Beide Werte zeigen die Kraft an, die das Blut auf eine bestimmte Fläche ausübt, gemessen in mmHg (Millimeter Quecksilbersäule) oder kPa (Kilopascal). Auf dem Weg durch den Körper verliert das Blut an Druck. Ist es in den Füßen, müssen Muskeln das Blut zum Herzen zurückschicken. Eine trainierte Wadenmuskulatur ist deshalb der beste Freund der Beinvenen. Die wichtigsten Ursachen für Bluthochdruck sind Übergewicht und Bewegungsmangel. Bei Übergewichtigen muss das Herz stärker arbeiten. Dafür ist der Körper nicht ausgelegt.  

Wenn der Blutdruck steigt, kann man meistens selber etwas tun. Doch die Ärzte verschreiben lieber Tabletten, statt sich und ihre Patienten mehr zu fordern.

Oft lange unbemerkt, schädigt ein zu hoher Blutdruck Herz, Gefäße, Hirn oder Nieren. Bis es zum Herzinfarkt kommt, zur Gehirnblutung, zum Schlaganfall. Bei mehr als 20 Millionen Menschen in Deutschland, schätzt die Deutsche Herzstiftung, kämpft der Körper.

Das Problem ist, dass es sich trotz hoher Blutdruckwerte meist gut beschwerdefrei leben lässt. Zwar haben Betroffene immer mal wieder Schwindel, Ohrensausen oder Nasenbluten. Doch die Gefäße und Organe werden im Verborgenen geschädigt. Der Organismus gewöhnt sich an die Dauerbelastung und gleicht sie so lange aus, bis es nicht mehr geht.

Selten ist Bluthochdruck Schicksal

Von Natur aus ideal ist ein Blutdruck von 100 bis 110 mmHg. Ein mmHg meint den Druck, den ein Millimeter einer Quecksilbersäule ausübt. „Über diesem Wert steigt das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen mehr oder weniger linear an, das wissen wir aus großen Untersuchungen“, erklärt Heribert Schunkert, Direktor der Klinik für Herz- und Kreislauferkrankungen am Deutschen Herzzentrum München.

Es gibt zwei Stellschrauben, um überschießende Werte zu senken: Lebensstil und Medikamente. „Wenig Salz, viel Bewegung, sich insgesamt gesund ernähren und Übergewicht loswerden – das alles schadet ja generell niemandem und zeigt bei Bluthochdruckpatienten meist deutliche Effekte“, sagt Schunkert. Als grobe Richtschnur gelte: Pro verlorenem Kilo sinkt der Blutdruck um 1 mmHg.

Medikamente braucht es ab 140

Genauer hinschauen müssen Ärzte, wenn der Patient Medikamente nehmen soll. Die braucht es, wenn man auf die Dauer 140 mmHg und mehr misst. Schunkert: „Hier haben Studien gezeigt, dass die Wirkstoffe sehr gut dabei helfen können, das Risiko für einen Schlaganfall, Herzmuskelschwäche, Nierenerkrankungen oder einen Herzinfarkt zu senken.“

Unübersichtlicher wird es, betont Schunkert, wenn der Blutdruck ohne Medikamente knapp unter 140 liegt. Verschiedene Studien kommen hier zu unterschiedlichen Ergebnissen. Im Großen und Ganzen sehe es aber so aus, dass dann Arzneimittel nicht mehr viel brächten.

Viele ahnen nichts von ihren Problemen

Wenn Patienten schon Medikamente schlucken, dann sollte der Blutdruck am besten gleich auf 120 bis 130 gesenkt werden. „Darunter erkauft man sich einen relativ kleinen Nutzen mit mitunter belastenden Nebenwirkungen“, warnt Schunkert, „das ist bei vielen Patienten einfach nicht nötig.“

Doch auch das lässt sich nicht verallgemeinern, wie eine aktuelle Studie der Universität Ulm und der Agaplesion Bethesda Klinik zeigt: Rund drei Viertel aller 75-Jährigen leiden an Bluthochdruck, der medikamentös behandelt wird. Bei Menschen, die gebrechlich sind, sollte man das besser lassen, sagen die Ulmer Forscher. Denn dann sind mehr Stürze programmiert, die das Sterberisiko wegen Folgekomplikationen wie einen Oberschenkelhalsbruch erhöhen.

Daten von über 1100 Senioren

Die Wissenschaftler werteten die Daten von über 1100 Senioren aus. Wer fitter war, bei dem erwies sich ein Blutdruck von 130 als optimal; so empfehlen es auch die medizinischen Leitlinien. Bei den Gebrechlichen allerdings hatten die Teilnehmer mit einem Blutdruck von 160 das geringste Sterberisiko.

Bei jedem müsse individuell geschaut werden, ergänzt Schunkert: Überwiegt die potenzielle Wirkung des Medikaments wirklich das Risiko der Nebenwirkungen? Wie wird der Wirkstoff vertragen? Und welche Möglichkeiten auf der Seite der Lebensstiländerungen hat man vielleicht noch nicht ganz ausgeschöpft?

Bei manchen hilft auf nicht die Joggingrunde

Außerdem gibt es Fälle, bei denen dem hohen Blutdruck mit regelmäßigen Joggingrunden nicht beizukommen ist. Diese Patienten haben die Veranlagung geerbt, ihnen helfen die Medikamente. In manchen Fällen hängen hohe Werte auch mit der Niere zusammen. Dann sind zum Beispiel ihre Arterien verengt, das Organ ist verkleinert oder es sitzt voller Zysten. Durch die Schädigung der Niere werden mehr Hormone ausgeschüttet, die den Blutdruck nach oben treiben.

Umgekehrt beschädigt der hohe Blutdruck die Nieren: Ihre feinen Gefäße entzünden und verengen sich. Um weiter funktionstüchtig zu bleiben und das Blut durch das Gefäßsystem zu bekommen, braucht es mehr Druck. Es entsteht ein Teufelskreis. Um den zu unterbrechen, operiert man bei besonders schwerem Bluthochdruck: die Nervenfasern an der Nierenarterie werden verödet.

Sport und andere Ernährung sind Hemmnisse

Die Masse der Blutdruckpatienten sei das aber nicht, betont der Münchner Mediziner Heribert Schunkert, die weitaus meisten könnten ihre Werte durchaus beeinflussen. Die Schwierigkeit liegt in der Motivation. Wer ein Leben lang Sport gescheut und einen Hang zu Fleisch und Wurst hat, dem erscheinen ein, zwei Tabletten einfacher, als das eigene Leben umzukrempeln. Zumal die Medikamente gern verschrieben werden.

Für nahezu alle blutdrucksenkenden Mittel ist der Patentschutz ausgelaufen, sie sind also günstig. Und wirken. Schunkert wünscht sich hier ein bisschen mehr Ehrgeiz: „Blutdrucksenkung ist Teamarbeit, und wir Ärzte sollten es unseren Patienten nicht ganz so leicht machen.“ Immer wieder haben Kardiologen darüber diskutiert, wie sinnvoll Bluthochdruck-Grenzwerte sind. Zuletzt war die Debatte im Herbst 2017 hochgekocht, als eine amerikanische Expertengruppe die Vorgaben nach unten korrigierte.

Daten umstritten

In Europa diagnostiziert ein Arzt derzeit einen hohen Blutdruck, wenn der systolische Wert bei 140 oder höher und die diastolische Messung bei 90 oder höher liegt. Das galt auch lange in den USA. Bis 2017 das American College of Cardiology und die American Heart Association die Werte auf 130 und 80 änderten. Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie sieht das noch als „normal erhöhten Blutdruck“, also nicht behandlungsdürftig an. Durch die Neudefinition wurde plötzlich jeder dritte Bewohner der Vereinigten Staaten zum Bluthochdruckpatienten – vorher war es jeder vierte.

Auslöser für die strengere Herangehensweise der Amerikaner war die sogenannte Sprint-Studie von 2015. Demnach sterben Menschen, die ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben, seltener früher, wenn man ihren systolischen Blutdruck auf 120 senken kann. Die Daten aus der Studie sind allerdings umstritten, weil der Blutdruck für diese Untersuchungen anders gemessen worden ist, als es normalerweise im ärztlichen Alltag üblich ist. Das habe, sagen Kritiker, zu falschen Ergebnissen geführt.

In Deutschland läuft es schlecht

Wenn niedrigere Grenzwerte dazu führen, dass sich die Menschen eher über ihren Blutdruck Gedanken machen, haben sie ihren Zweck erfüllt, meint Franz-Josef Neumann. Er sieht es pragmatisch. „Die Frage ist: Ab wann fängt man an zu korrigieren?“, sagt der Ärztliche Direktor der Klinik für Kardiologie und Angiologie II am Universitätsherzzentrum Freiburg, Bad Krozingen. „Die Amerikaner haben damals beschlossen, dass sie damit früher anfangen als bisher, damit wird die Schwelle der Beratung für die Patienten etwas niedriger gesetzt. Das bedeutet nicht automatisch, dass der Patient Medikamente bekommt. In erster Linie wird er beraten, welchen Einfluss ein gesunder Lebensstil auf den Bluthochdruck hat.“

In Deutschland läuft es trotz aller Fortschritte mit der Blutdruckeinstellung immer noch schlecht. Etwa ein Fünftel der Patienten weiß nichts von ihrer Erkrankung, sagt Neumann, und von denen, die behandelt werden, erreicht ein Drittel nicht einmal das Soll, da die Behandlung nicht konsequent genug ist. Die Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie empfehlen ein generelles Behandlungsziel von unter 140 und 80 sowie für unter 70-Jährige mit erhöhtem Risiko unter 130 und 80. „Am Ende ist nur etwa die Hälfte der Bluthochdruckpatienten gut eingestellt“, rechnet Neumann vor.

Wann ist Blutdruck behandlungsbedürftig?

Ob es tatsächlich Menschenleben rettet, wenn die Schwelle, ab der ein Blutdruck als behandlungsbedürftig gilt, weiter nach unten gesetzt wird, hat ein Team des Helmholtz-Zentrums München und der Technischen Universität München untersucht. In ihrer 2018 im „European Heart Journal“ veröffentlichten Studie haben die Forscher Daten von rund 12.000 Patienten ausgewertet und keinen schützenden Effekt bei niedrigeren Grenzwerten gefunden.

Die Wissenschaftler entdeckten einen ganz anderen Zusammenhang: „Wir haben depressive Stimmungslagen bei etwa der Hälfte derjenigen Patienten festgestellt, die Medikamente gegen den Bluthochdruck genommen haben“, sagt die Epidemiologin Seryan Atasoy, Erstautorin der Untersuchung. Bei den unbehandelten Teilnehmern fühlte sich nur ein gutes Drittel abgekämpft.

Wirkung auf psychische Gesundheit

„Wir glauben, dass dies eine Art Labeling-Effekt ist“, sagt Atasoy, „wenn man Menschen als krank deklariert, wirkt sich das auf ihre psychische Gesundheit aus. Sie sahen sich vielleicht bisher gar nicht als krank an und haben sich nicht so gefühlt, und sie werden tatsächlich krank.“ Depressionen wiederum sind ein Risikofaktor für schwerere Herz-Kreislauf-Leiden.

Atasoy plädiert daher dafür, Grenzwerte allenfalls zur Orientierung zu geben: „Stattdessen sollten individuelle Faktoren darüber entscheiden, ob der Blutdruck medikamentös behandelt wird oder nicht: Welche Risiken bringt der Patient sonst noch mit? Raucht er? Gibt es andere Begleiterkrankungen?“

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