Wissen Bleib ganz cool

Wir sind Familie: Auch Kinder haben Stress. Studien zufolge wird das in der westlichen Welt immer schlimmer. Eltern können lernen, den Druck herauszunehmen. Und vor allem sollten sie Vorbild sein: Eigene Gelassenheit zeigt dem Nachwuchs, wie es geht.

Stress – das ist ein Wort für die Großen. Das klingt nach einem Berg von Arbeit, Überstunden, Abgabeterminen und launischen Vorgesetzten. Nach einem schweren Seufzer am Ende eines langen Tages. Aber so gar nicht nach etwas, das man schon im Kinderzimmer kennt. „Es ist ein großer Irrtum zu denken, Kinder hätten keinen Stress“, sagt Ruth Weinzierl. Die Diplompsychologin beschäftigt sich an der Kinderklinik des RKK-Klinikums St. Josefskrankenhaus in Freiburg seit gut 20 Jahren mit dem Thema. Die Zahl ihrer Patienten hat in den vergangenen Jahren stetig zugelegt. Das bestätigt eine finnische Studie: Die Wissenschaftler haben sich in einem Zeitraum von knapp 30 Jahren das Auftreten von Kopfschmerzen und Migräne bei Zweitklässlern angeschaut. Sie gehen dabei davon aus, dass Kopfschmerzen ein Symptom für Stress sind. Ergebnis: Während 1974 knapp 2 Prozent der 7-Jährigen unter Migräne litten, waren es 1992 knapp 6 Prozent und 2002 schon 12 Prozent. Mindestens einmal im Monat hatten 1972 nur rund 6 Prozent der Kinder Kopfschmerzen, 2002 waren es etwa 26 Prozent. Ist es wirklich so, dass Kinder heute mehr Stress haben? „Da kommt sicher zweierlei zusammen. Zum einen gibt es definitiv mehr Stress für die Kinder, der auch früher beginnt. Zum anderen haben wir hier auch das Phänomen, dass Eltern aufmerksamer geworden sind und genauer hinschauen, was den Kindern fehlt“, meint Weinzierl. „Wir wissen bisher noch sehr wenig über die Ursachen zunehmender Kopfschmerzen, aber da wird zurzeit intensiv geforscht. Ich denke, in den kommenden 10 Jahren gibt's da sicher neue Erkenntnisse.“ Im Herbst 2012 hat der Deutsche Kinderschutzbund gemeinsam mit dem Prosoz-Institut für Sozialforschung eine Studie zum Thema Leistungsdruck veröffentlicht. Dafür sind in 11 Bundesländern insgesamt rund 5000 Kinder zwischen 7 und 9 Jahren befragt worden. Ein Viertel der Kinder gab an, sich regelmäßig unter Druck gesetzt zu fühlen. Die mit Abstand häufigste Stressursache mit 33 Prozent: die Schule. Hausaufgaben, Diktate, Bemerkungen von Lehrern oder schlechte Noten belasten die Kinder. Weitere Gründe, dass sich die Kleinen gestresst fühlen, sind „Ärger und Streit“ (21 Prozent) und Probleme mit Familie, Geschwistern oder Eltern (17 Prozent). Kinder unter Dauerdruck sind meist nervös, ängstlich, angespannt. Oft machen sie sich so viele Gedanken, dass sie nicht einschlafen können. Die einen ziehen sich zurück, wirken teilnahmslos und haben keinen Spaß mehr an den Dingen, die sie bis vor Kurzem noch gern getan haben. Die anderen reagieren mit einem Überschwang an Gefühlen und werden gereizt und aggressiv. „Generell gilt immer: Elternstress ist Kinderstress – und umgekehrt“, erklärt Ruth Weinzierl. Auch Säuglinge könnten schon gestresst sein, bei ihnen äußere sich das zum Beispiel dadurch, dass sie viel schreien und sehr unruhig sind. Selten lasse sich sagen: Hier ist der auslösende Faktor, da die entsprechende Reaktion. Stattdessen drehe sich häufig eine Spirale: Ein weinendes Kind lässt sich nicht beruhigen, die Eltern fühlen sich unter Druck, das Kind spürt dieses Unwohlsein und lässt sich noch weniger beruhigen und so weiter. „Viele Stresssymptome sind körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, Schwindel, Bauchschmerzen oder Übelkeit, deshalb sehen wir uns das in der Klinik immer von zwei Seiten an: der medizinischen und der psychologischen“, betont Weinzierl. Erst wenn eindeutig geklärt ist, dass keine andere Erkrankung dahinter-steckt, wird nach den psychischen Belastungen geschaut. Ruth Weinzierl versucht das in einem gemeinsamen Gespräch mit den Eltern und den Kindern herauszubekommen, ihre Rolle ist dabei die einer Assistentin. Entsteht der Druck eher von außen oder ist er selbst gemacht? Beides, betont Ruth Weinzierl: „Es kommt nicht selten vor, dass Kinder sehr hohe Erwartungen an die eigene Leistung haben.“ Geraten Kinder massiv und ständig unter Druck, finden Reaktionen auf 3 Ebenen statt: Die Herzrate erhöht sich, das Kind fängt an zu schwitzen, Kopfschmerzen können einsetzen – das ist die körperliche Reaktion. Dann setzt eine Gedankenspirale ein. Und da sind Kinder unterschiedlich. Während das eine denkt „Okay, das packe ich an“ und sich damit guten, den sogenannten Eustress, macht, passiert beim anderen genau das Gegenteil: Es denkt, es wird versagen. Ruth Weinzierl nennt das „schwarze Gedanken“, der negative Distress. Schließlich ändert sich auch das Verhalten: Das kann von der totalen Verweigerung reichen bis zum Hinschnuddeln einer Sache mit dem einen Ziel, möglichst schnell den Mist fertig zu bekommen. Den meisten Druck bekommen die Kinder und Jugendlichen in der Schule. Ob sie als stressig empfunden wird, hat Ruth Weinzierl zufolge allerdings nicht nur mit dem herrschenden Leistungsanspruch zu tun. Eine wichtige Rolle spiele auch das Umfeld. „Mobbing ist ein großes Thema“, bekräftigt Weinzierl, „da brauchen Kinder verlässliche Unterstützung.“ In besonders schlimmen Fällen sollten Eltern nicht zögern, auch über einen Schulwechsel nachzudenken. Was hilft gestressten Kindern? Die Familie sollte zum Beispiel überlegen, ob der Alltag des Kindes nicht zu voll ist und ob er sich an dessen Bedürfnissen orientiert. „Manche Kinder packen es problemlos, wenn sie jeden Nachmittag ein anderes Programm haben, die finden das sogar cool. Für andere ist genau das Stress pur“, weiß Weinzierl aus Erfahrung. Wichtig ist auch das Vorbild, das die Eltern geben. Merkt der Nachwuchs, dass die Eltern in hektischen Zeiten nicht in Panik verfallen, stärkt das das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Diese Gelassenheit nimmt viel Last von den Kindern. Hilft alles nichts, dann sollte man professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Bewährt hat sich dabei vor allem die Entspannung. „Das wirkt toll bei Kindern, die können das viel besser als Erwachsene. Wir arbeiten mit Progressiver Muskelrelaxation – weil man hier mit einer Technik verschiedene Entspannungsmöglichkeiten gewinnt: Sowohl eine ausgiebige Entspannung als Basis als auch eine kurze, intensive für akute Stresssituationen“, sagt Weinzierl, die das zum Beispiel in speziellen Gruppen trainiert. Auch regelmäßiger Sport, am besten an der frischen Luft, ist eine wunderbare Möglichkeit, den Pegel bei Kindern abzubauen. Manche Kinder können prima entspannen, wenn sie zum Beispiel einfach auf dem Bett liegen und Musik hören. Wie ein Kind sich beruhigt, sei egal, betont Weinzierl, Hauptsache die Kinder wissen, wie sie das schaffen und dass sie sich solche Pausen nehmen.

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