Wirtschaft Leitartikel: Wunschwirtschaft

Die Wirtschaft läuft rund – in Deutschland und weltweit. Das gibt Rätsel auf:

Erstens, wo sind die Konjunkturzyklen geblieben? Zweitens, wieso steigen die Preise so langsam? Und drittens, warum ziehen die Löhne nicht stärker an? Zentralbanken beklagen niedrige Lohnsteigerungen. Das sollte

Gewerkschaften zu denken geben.

Das war einmal der Wunschtraum der Ökonomen. Weil er wahr geworden ist, stehen viele jetzt ratlos da. Die Wirtschaft wächst in Deutschland und in vielen Teilen der Welt schon seit Jahren trotz aller politischer Risiken und Konflikte, trotz Terroranschlägen und Flüchtlingskrise. Das robuste Wachstum schafft Jobs. Und der Aufschwung läuft ohne die früher üblichen Überhitzungserscheinungen wie stark steigende Löhnen und hohe Inflation. Wer will, kann heute um Mitternacht auch auf das kommende neunte deutsche Wachstumsjahr in Folge anstoßen. Dem wird 2019 wahrscheinlich das zehnte folgen. Die vielen starken Unternehmen in Deutschland, die Arbeitsplätze schaffen und Steuern zahlen, sind zum gesellschaftlichen Stabilitätsanker in unsicherem politischen Umfeld geworden. Trotz des Abgas-Skandals und trotz Firmenpleiten wie der von Air Berlin, die bundesweit für Aufsehen sorgt, oder der Insolvenz von CS Schmalmöbel, die in der Region Kusel Unruhe auslöst. Die Weltwirtschaft wächst mit jährlichen Raten von knapp 4 Prozent wieder fast so stark wie vor der großen Krise 2008/2009. Auch viele Euro-Länder haben Tritt gefasst. Das hat die Exporte zum Wachstumstreiber der deutschen Wirtschaft gemacht. In besonderem Maß profitiert davon die Pfalz – mit einer industriellen Exportquote von 66 Prozent eine der ausfuhrstärksten Regionen Deutschlands. Im Rhein-Pfalz-Kreis, in den Landkreisen Bad Dürkheim, Germersheim und Südliche Weinstraße sinken die Arbeitslosenquoten in Richtung der 3-Prozent-Marke, ab der von Vollbeschäftigung die Rede ist. In Deutschland sind so wenige Menschen arbeitslos wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Der Mangel an Fachkräften ist zum wachstumsbegrenzenden Faktor geworden. Wer monatelang auf einen Handwerker warten muss, bekommt die Kehrseite der guten Beschäftigungslage zu spüren. Die Arbeitslosenquote ist im Euro-Raum auf knapp 9 Prozent gesunken. Seit dem letzten Höchststand der Arbeitslosigkeit 2013 wurden 6,6 Millionen Jobs geschaffen. Dass so viele gesamtwirtschaftliche Wünsche in Erfüllung gehen, stellt Konjunkturforscher derzeit vor drei Rätsel: Erstens, wo sind die Konjunkturzyklen geblieben? Zweitens, wieso steigen die Preise so langsam? Und drittens, warum ziehen die Löhne nicht stärker an? Erklärungsversuche könnten lauten, dass erstens der Aufschwung zur Einbahnstraße geworden ist, weil er in Form von mehr Beschäftigung die Menschen mitgenommen hat. Der dadurch wachsende Konsum stabilisiert. Zweitens dämpft die Globalisierung mit stärkerer internationaler Arbeitsteilung und verschärftem Wettbewerb den Preisanstieg. Zudem hat die Opec, das Kartell ölfördernder Länder, seine Macht eingebüßt, seit die USA mit neuartigen Fracking-Techniken zu einem der größten Erdölproduzenten der Welt aufgestiegen sind. Versucht die Opec den Ölpreis durch Förderbeschränkungen hochzutreiben, dreht in den USA sofort der Fracking-Motor höher, wodurch Öl wieder billiger wird. Preise je Barrel (159 Liter) von über 100 Dollar wie in den Jahren 2011 bis 2014 wird es in absehbarer Zeit nicht mehr geben. Und drittens warnen Chefs von wichtigen Zentralbanken – etwa in Europa und den USA – nicht mehr wie früher vor hohen Lohnsteigerungen. Sie machen sich Sorgen, weil sie zu niedrig ausfallen und deshalb die Inflation unter dem Zielwert von knapp 2 Prozent dümpelt. Das sollte den Gewerkschaften zu denken geben – und vor allem den Beschäftigten, die bisher nicht organisiert sind. Viele Gewerkschaften haben in den vergangenen Jahren Mitglieder verloren.

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