Bahnverkehr Getrübte Vorfreude auf das 9-Euro-Ticket

Der RE 60 von Mannheim nach Frankfurt wird sicherlich stark durch 9-Euro-Ticket-Reisende frequentiert werden. Die hier eingesetz
Der RE 60 von Mannheim nach Frankfurt wird sicherlich stark durch 9-Euro-Ticket-Reisende frequentiert werden. Die hier eingesetzten Triebwagen der Baureihe 446 sind zum Glück nicht von der Ersatzteilknappheit bei Doppelstockwagen wegen des Ukraine-Kriegs betroffen.

Noch ist nicht sicher, ob es wirklich eine deutschlandweit gültigen 9-Euro-Monatskarte geben wird. Bund und Länder streiten noch über die Finanzierung. Da aber ein Scheitern des Projekts nun eine Riesenblamage wäre, ist eine Einigung wahrscheinlich. Es zeichnen sich allerdings erhebliche Probleme ab.

Auf das deutsche Nahverkehrssystem kommt mit der geplanten Einführung einer bundesweit gültigen 9-Euro-Monatskarte eine bisher beispiellose Belastungsprobe zu. Derzeit sind schon die Anfänge von dem zu beobachten, was auch in der deutschen Politik mittlerweile gerne mit dem englischen Begriff „blame game“ bezeichnet wird – der Versuch, für Probleme anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Die für den Nahverkehr zuständigen Bundesländer mahnen zusätzliche Mittel des Bundes an, um absehbar notwendige Kapazitätsaufstockungen finanzieren zu können. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) verweist demgegenüber darauf, dass die Länder eine bundesweite Gültigkeit des Tickets gewollt hätten und nun auch sehen sollten, wie sie das dadurch entstehende Verkehrsaufkommen bewältigen.

Die Ampel-Koalition hatte Ende März ohne jede Rücksprache mit der Nahverkehrsbranche und den zuständigen Bundesländern in einer Nachtsitzung die Einführung eines 9-Euro-Monatstickets beschlossen. Dabei blieb sehr viel ungeklärt. Dass sich die Verkehrsunternehmen trotz der absehbaren Probleme auf eine bundesweite Gültigkeit einigten, lag vor allem daran, dass jede mögliche Variante einer wie auch immer gearteten regionalen Beschränkung zu komplizierten Negativ-Diskussionen geführt hätte. Viele hätten sich dann benachteiligt gefühlt. „Alles für alle“ war da die einfachste Lösung.

Vieles dürfte laufen wie beim Ticket Schönes Wochenende

Dass es nun drei Monate lang einen Quasi-Nulltarif mit kleiner Schutzgebühr von 9 Euro pro Monat gibt, ist ein beispielloser Vorgang. Wer sich an einer Prognose versucht, was davon zu erwarten ist, stößt auf nur einen annähernd ähnlichen Fall, nämlich die Einführung des Tickets „Schönes Wochenende“ im Februar 1995.

Auch dieses Angebot erschien damals geradezu unglaublich. Der Kontext war, dass die gut ein Jahr zuvor gegründete Deutsche Bahn (DB) AG, in der die Deutsche Bundesbahn und die Deutsche Reichsbahn der früheren DDR aufgegangen waren, vor einer potenziell äußerst heiklen Situation stand. Sie bekam hohe Zuschüsse für den Regionalverkehr, aber ab 1996 konnte es passieren, dass die Bundesländer in ihrer neuen Rolle als Besteller der Regionalzüge jede Menge Züge abbestellten. Das hätte für die DB verheerende Einnahmeausfälle zur Folge gehabt. In dieser Situation setzte sich bei der DB eine – vorsichtig ausgedrückt – sehr unkonventionelle Idee durch. Da Abbestellungen vor allem am Wochenende drohten, wo kaum Pendler unterwegs sind, wurde ein Ticket auf den Markt gebracht, dass die Fahrgastzahlen am Wochenende in ungeahnte Höhen trieb. Anfangs kostete das Ticket 15 DM. Damit konnten bis zu fünf Personen bundesweit an einem ganzen Wochenende unbegrenzt mit Regionalzügen fahren.

Das Ticket wurde binnen kurzer Zeit zu einem Renner. In Rheinland-Pfalz trug es erheblich dazu bei, dass der im Mai 1994 eingeführte Rheinland-Pfalz-Takt zu einem spektakulären Erfolg wurde.

Nord-Süd-Fernverkehr lief 1995 über die Alsenzbahn

Dank des integralen Taktfahrplans mit guten Anschlüssen ergaben sich neue Verbindungen auch für überregionale Verkehrsströme. Wer beispielsweise mit dem Wochenend-Ticket von Karlsruhe nach Köln (und weiter ins Ruhrgebiet) fuhr, hatte die günstigsten Anschlüsse auf dem Weg über Neustadt, Kaiserslautern und die Alsenzbahn, die damit an ihre frühere Bedeutung als wichtige Nord-Süd-Fernstrecke anknüpfte.

Die DB erreichte ihr wohl wichtigstes (wenn auch nie offiziell genanntes) Ziel: Angesichts des Fahrgastansturms war die Gefahr, dass die Länder in großem Stil Züge abbestellten, gebannt. Allerdings entstand das gleiche Problem, das auch vom 9-Euro-Ticket zu erwarten ist. Massive Nachfragesteigerungen ergaben sich nicht nur da, wo sie sich problemlos bewältigen ließen, sondern auch dort, wo die Kapazitäten dafür nicht ausreichten. Deshalb geben die damaligen Erfahrungen Hinweise darauf, wo auch in kommenden Sommer erhebliche Probleme zu erwarten sind.

Zum einen sind das Strecken mit viel Ausflugsverkehr, auf denen schon ohne 9-Euro-Ticket die Züge oft stark frequentiert sind. Dazu gehören die Strecken von Berlin an die Ostsee und von Hamburg nach Westerland auf Sylt.

Regioanl-Express-Linien stark frequentiert

Hinzu kommen aber auch Linien, über die Reisende fahren, die längere Strecken zurücklegen und für den Quasi-Nulltarif lange Fahrzeiten in Kauf nehmen. Vereinfacht gesagt, sind das so gut wie alle Linien, die großräumig parallel zu ICE-Strecken verlaufen. Dazu gehören die Regional-Express-Linien von Mannheim nach Frankfurt sowie von Frankfurt nach Kassel und Fulda. Auf letzteren zeichnet sich ein Sonderproblem ab. Hier werden Doppelstockwagen eingesetzt, bei denen bisher in der Ukraine produzierte Radscheiben knapp werden. Wegen des Kriegs in der Ukraine bleiben Lieferungen aus. Die DB hat zwar in Spanien einen neuen Anbieter gefunden, der aber nicht von heute auf morgen die entstandenen Lücken füllen kann. Die DB verkürzt deshalb teilweise derzeit Züge, um ihre schrumpfenden Ersatzteilvorräte zu schonen und im Juni wieder die bestellte Kapazität anbieten zu können. Die auf den Regional-Express-Linien RE 60 und RE 70 von Mannheim nach Frankfurt eingesetzten Twindexx-Triebwagen (Baureihe 446) sind von dem Problem nicht betroffen.

Hier wie in anderen Fällen fehlt es jedoch an größeren Reserven für zusätzliche Fahrgäste. 1995 war es noch leichter möglich, aus dem großen Bestand von Altfahrzeugen Züge um einen oder mehrere Wagen zu verlängern. Abgestellte Altfahrzeuge für drei Monate zu reaktivieren, wäre nun in vielen Fällen kostspielig und müsste von den Nahverkehrsaufgabenträgern finanziert werden – was besonders schwierig ist, wenn der Bund eigentlich angekündigte Mittel nicht bereitstellen will.

9-Euro-Ticket: Kollektives Kopfschütteln

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