Wirtschaft Wie gefährlich China wirklich für Europa ist

Im größten Hafen Griechenlands, Piräus, ist Europa so chinesisch wie nirgendwo sonst.
Im größten Hafen Griechenlands, Piräus, ist Europa so chinesisch wie nirgendwo sonst. Foto: imago-images/xinhua

Mehr als 300 Milliarden Dollar haben chinesische Unternehmen in Europa investiert – von Hightech bis Tourismus. Verkaufen die Europäer ihre Wirtschaftskraft?

Die Verheißung aus Fernost erreicht Deutschland meist in der Nacht. Schier endlose Container-Züge mit chinesischen Schriftzeichen fahren nach 11.000 Kilometern Reise ihre Endstation am Duisburger Rheinufer an. Dort stehen Lkws und Schiffe bereit, um vom Smartphone bis zur Bademode China-Waren aller Art in die umliegenden Länder zu verteilen. Rund 30- mal pro Woche wiederholt sich das Schauspiel und beschert dem Güterbahnhof einen klingenden Titel: Vom „Ende der Seidenstraße“ sprechen die Manager der Stadt und preisen die um drei Wochen kürzeren Lieferzeiten gegenüber dem Schiffstransport.

Eisenbahnlinien, Häfen und Stromnetze, Maschinenbau, Tourismus und Finanzwesen – in all diesen Branchen kaufen sich chinesische Unternehmen in die europäische Wirtschaft ein. Schon weit mehr als 300 Milliarden Euro haben sie hier investiert. Lange galten Investitionen aus China als willkommene Folge der Globalisierung, zumal europäische Unternehmen umgekehrt schon weit mehr in China investiert haben. Allein aus Deutschland sind nach Angaben des Pekinger Handelsministeriums mindestens 5000 Unternehmen mit mehr als 100 Milliarden Euro in China engagiert.

Mit seinem rasanten Aufstieg wird der asiatische Wirtschaftsriese jedoch zusehends Konkurrent. Von den 500 größten Unternehmen der Welt haben bereits 119 ihren Sitz in China, nur zwei weniger als in den USA. Erstmals seit der Industriellen Revolution steht die Vormachtstellung der Europäer und Amerikaner in der Weltwirtschaft wieder in Frage. Doch die „Angst vor dem Ausverkauf“ der europäischen Industrie nach China, wie die „Frankfurter Allgemeine“ schrieb, geht am tatsächlichen Geschehen vorbei. Seit 2016 kauften Investoren aus China mehr als 160 weitere europäische Unternehmen für Preise von mehr als 100 Millionen bis zu 43 Milliarden Dollar. In den meisten Fällen, das bestätigten Manager und Arbeitnehmer von Norwegen bis Italien, geht es den gekauften Unternehmen heute besser als vorher. „Chinesische Investoren halten sich in aller Regel an die Gesetze und Tarifverträge“, konstatiert Rüdiger Luz, als Leiter der Abteilung Betriebspolitik bei der IG Metall ein Kenner der europäischen Industrie.

Rettung für das „Prada der Reifenindustrie“

Dafür steht exemplarisch der chinesische Staatskonzern ChemChina, zu dem unter anderen der Reifenkonzern Pirelli aus Italien, der Enzym-Spezialist Adisseo aus Frankreich, der Silikonproduzent Elkem aus Norwegen, der Schweizer Agrarchemiehersteller Syngenta und der deutsche Weltmarktführer für Kunststoff-Maschinen Kraus-Maffei gehören. Der Lenker dahinter ist der Millionär Ren Jianxin, dem die Regierung die Sanierung vieler maroder Betriebe übertrug.

Die von ihm eingesetzten Manager lassen den Tochterfirmen in Europa weitgehend freie Hand. Für die rund 6200 Mitarbeiter beim norwegischen Silikon-Spezialisten Elkem sei der Verkauf nach China „nur positiv“, versichert Marianne Færøyvik, Vertreterin der Gewerkschaften im Aufsichtsrat.

Die gleiche Erfahrung machen auch die Mitarbeiter bei Pirelli, dem „Prada der Reifenindustrie“, wie Ren es nennt. Nach der Übernahme für mehr als sieben Milliarden Euro im Jahr 2015 bot er den italienischen Kollegen einen erstaunlichen Vertrag: Obwohl die erworbenen 45 Prozent der Aktien ChemChina die volle Kontrolle verschaffen, kann die Konzernzentrale nur ins Ausland verlegt werden, wenn die übrigen Eigentümer zustimmen.

Frank Stiehler, Chef des Münchner Maschinenbauers Krauss-Maffei, sieht sein Unternehmen bei ChemChina ebenfalls gut aufgehoben. „Wir investieren heute doppelt so viel wie in den Jahren unter Führung durch angelsächsische Finanzinvestoren“, sagt Stiehler. Gleich vier neue Werke seien in Planung und Bau, drei davon in Deutschland. 800 neue Jobs wurden schon geschaffen.

Den größten Coup landete ChemChina in der Schweiz. Dort lieferten sich 2015 die Chemiekonzerne einen Bieterkampf zur Übernahme des Agrochemieherstellers Syngenta. Zunächst offerierte Monsanto 35 Milliarden Dollar und die Wettbewerber von BASF bis Dow loteten Gebote bis zu 38 Milliarden Dollar aus. Aber dann bot Ren den Syngenta-Aktionären noch einmal fünf Milliarden Dollar mehr. „Da konnte kein anderer mithalten“, erzählt ein deutscher Manager, der damals dabei war.

Unbegrenzte Finanzpower?

Genau das aber macht Europas Wirtschaftslenkern Angst. Oft stehe hinter den Käufern der chinesische Staat, heißt es in einem Strategiepapier des Bundeswirtschaftsministeriums von 2017. Demnach sei „der Käufer in der Lage, mehr Geld für das Unternehmen zu zahlen und sich so einen Vorteil zu verschaffen“. Allerdings scheint die Furcht vor dem Subventions-Doping auf bloßen Annahmen zu beruhen. Auf Nachfrage erklärt eine Sprecherin von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, „einzelfallbezogene Erkenntnisse zum Einfluss staatlicher Subventionen auf die Investitionstätigkeit chinesischer Unternehmen im Ausland liegen der Bundesregierung nicht vor“. Mit anderen Worten: Nichts Genaues weiß man nicht.

Wang Weidong, Chinas führender Wirtschaftsdiplomat in Europa, versichert, der chinesische Staat habe „gar nicht das Geld, um Übernahmen der Staatsunternehmen im Ausland zu bezahlen“. Auch ChemChina habe seine Einkäufe in Europa „nicht nur mit Krediten der staatlichen Banken, sondern auch vom internationalen Kapitalmarkt zu kommerziellen Konditionen finanziert“. Zudem seien die Zinsen „in China sogar höher als in Europa“. Tatsächlich hat der Konzern jetzt mit der Schuldenlast zu kämpfen. Ren musste seinen Posten räumen. Von unbegrenzter Finanzkraft keine Spur.

Handelt es sich also nur um ganz normale Geschäfte, wie sie europäische Unternehmen seit jeher betreiben? Kritiker wie der Ökonom Max Zenglein vom Berliner Mercator-Institut für China-Studien widersprechen. Er warnt die deutsche Wirtschaft vor „unerwünschten Technologietransfers“. Deutschlands wirtschaftliche Fundamente könnten unmittelbar beschädigt werden, meint er. Aber wie genau das ablaufen soll, kann er nicht erklären. Wirtschaftlich wäre ein Niedergang der europäischen Industrie auch gar nicht im Interesse Chinas, weil die EU der größte Handelspartner ist, hält Wirtschaftsdiplomat Wang dagegen. Natürlich stehe man im Wettbewerb, „aber den hat Europa auch mit den USA, die Globalisierung ist kein Nullsummenspiel, alle können gewinnen“, argumentiert Wang wie ein klassischer Marktliberaler.

Ausverkauf am Mittelmeer

So widersprüchlich diese Debatte verläuft, so widersprüchlich ist auch die China-Politik der EU-Staaten. Das wird nirgendwo deutlicher als in den Krisenstaaten Portugal und Griechenland. Dort nötigten die anderen Eurostaaten die Regierungen seit 2011, ihren Staatsbesitz zu verkaufen, ganz gleich an wen. Europäische Investoren waren allerdings nicht interessiert oder boten wenig. Chinas Regenten dagegen erkannten die Chance. Und so gelangten Häfen, Stromgesellschaften und große Teile von Portugals Finanzsektor unter chinesische Kontrolle.

Längst haben der staatliche Schifffahrts- und Hafengigant Cosco und die Schwesterfirma China Merchant nicht nur die Kontrolle über den griechischen Hafen Piräus, sondern auch in weiteren 13 europäischen Häfen von Malta bis Rotterdam eigene Terminals und Anteile gekauft. Europas Hafenstädte liefern sich einen erbitterten Wettbewerb um die Gunst der Investoren aus China. Das Gleiche läuft europaweit auf allen Ebenen. Egal ob Kreisstadt oder Metropole, ob Provinzregierung oder Staatschefs, alle kämpfen mit derselben Misere: EU-weit fehlt es seit zehn Jahren an Investitionen, weil die EU anders als die USA nach der großen Finanzkrise auf Sparkurs ging. Das aber macht die Milliarden aus China umso verlockender und bringt die Europäer gegeneinander in Stellung.

Außenminister Heiko Maas warnte vor einem „bitteren Nachgeschmack. Wenn einige Länder glauben, dass sie clevere Geschäfte mit China machen, werden sie eines Tages aufwachen und abhängig sein“. Doch das klingt gerade aus deutschem Mund wohlfeil. Kein anderes EU-Land ist abhängiger von China als Deutschland. Die Supermacht in Asien ist längst größter Handelspartner. Im Schnitt verkaufen BMW, Daimler-Benz und VW dort ein Drittel ihrer Autos, mehr als in jedem anderen Land. Gleichzeitig sind sie mit chinesischen Unternehmen verflochten, allen voran Daimler-Benz, wo der private Autokonzern Geely und sein staatlicher Wettbewerber BAIC zwei der drei größten Aktionäre stellen.

„Volksfeind“ Daimler-Benz

Darin aber liegt das eigentliche Risiko. Die wachsende Abhängigkeit von Chinas Riesenmarkt macht weit eher erpressbar als Chinas Investitionen in Europa. Selbst Jörg Wuttke, Präsident der europäischen Handelskammer in China und für die BASF seit 22 Jahren im Geschäft mit dem Einparteienstaat, warnt: „Die Chinesen nutzen skrupellos ihre Wirtschaftskraft, um politischen Einfluss zu nehmen.“

Das bekam etwa Daimler im Februar 2018 zu spüren. Da hatte es ein Marketing-Mitarbeiter gewagt, eine Mercedes-Werbung auf Instagram mit einem Zitat des Dalai Lama zu schmücken. „Betrachte die Situation von allen Seiten, und du wirst offener“, riet der Autor den Lesern, aber aus Sicht der Pekinger Regenten ist schon die Erwähnung des „Separatisten“ ein Verbrechen. Binnen Stunden tobte ein Shitstorm und die Volkszeitung, das Sprachrohr der Partei, erklärte Daimler zum „Volksfeind“. Umgehend erklärte Dieter Zetsche, bis vor Kurzem Konzernchef, er „bereue zutiefst das Leid, das der unsensible Fehler über das chinesische Volk gebracht hat“.

Die EU folgt in Schlangenlinien den Interessen ihrer Mitglieder. Doch das kann nicht mehr lange gut gehen. Denn gleichzeitig eskaliert der Wirtschaftskrieg zwischen der alten Supermacht im Westen und der neuen im Osten. Und Europa droht zum Schlachtfeld zu werden. Die Ökonomen Jean Pisani-Ferry, Berater von Präsident Macron, und Guntram Wolff, Chef der führenden Brüsseler Denkfabrik Bruegel, schrieben ein Memo für die künftige EU-Kommission. Zentrale Aufgabe der EU sei es, ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit zu verteidigen, und gleichzeitig mit beiden, den USA und China, stark verbunden zu bleiben, mahnen sie. Das könnte, wenn überhaupt, nur gelingen, wenn alle EU-Staaten an einem Strang ziehen. Die Zeit wird dafür knapp.

Die Autoren

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