Rheinpfalz „Reden hilft vielen mehr als Tabletten“

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LUDWIGSHAFEN

. Mit dem Gesundheitswesen hadert Sertaç Bilgin schon seit Beginn seiner Ausbildung zum Krankenpfleger. Seit er seinen eigenen ambulanten Pflegedienst in Ludwigshafen leitet, hat sich dieses Unbehagen noch verstärkt. Bilgins Ansicht nach müsste das verkrustete System dringend reformiert werden. Mit seinem 2008 gegründeten multikulturellen Pflegedienst MKS-Medical hat der 35-Jährige eine Versorgungslücke in der Region geschlossen. „Viele Migranten fallen im Alter in ihre Muttersprache zurück“, sagt Bilgin. „Vor allem Alzheimer-Patienten haben dann große Schwierigkeiten, sich auf Deutsch zu verständigen. Ihnen wollen wir helfen.“ Sertaç Bilgin ist in Deutschland geboren und in Dannstadt aufgewachsen. Das Wort Integration kann er nicht leiden. Er fühlt sich als Vorderpfälzer, engagiert sich in der CDU und empfindet seine türkischen Wurzeln als bereichernd. Als Muslim weiß er, auf welche kulturellen und religiösen Unterschiede Rücksicht bei der Pflege alter Menschen genommen werden muss. Die MKS-Pflegekräfte orientieren sich zum Beispiel an den Gebetszeiten, um die Kranken nicht unnötig anzustrengen. Spannend sei es jedes Mal, das Geflecht an Ärzten zu durchschauen, um die Anzahl der Medikamente auf ein vertretbares Maß zu reduzieren, sagt Bilgin schmunzelnd. „Türkische Frauen haben mindestens drei Hausärzte, von denen sie sich Präparate verschreiben lassen. Außerdem beraten sie sich gegenseitig. Nach dem Motto: Die rote Tablette ist gut. Hol dir die!“ Das alles müsse mit den Ärzten abgeklärt werden, bevor der Gesundheitszustand der Patientinnen darunter leide. Bilgins Mitarbeiterinnen sind überwiegend Deutsche mit Migrationshintergrund. Sie kommen aus verschiedenen Nationen – genau wie die Menschen, die sie täglich versorgen. Auf dem Land betreut der ambulante Dienst vor allem Einheimische. In Ludwigshafen aber kümmern sich die Pflegekräfte zu 70 Prozent um Migranten. Flexibilität sei wichtig, um rasch von einer Kultur zur nächsten umschalten zu können, so Bilgin. „Sie kommen von einer arabischen Familie, besuchen anschließend einen türkischen Patienten, um danach einer jugoslawischen Familie beizustehen.“ Das sei interessant, erfordere aber auch viel Fingerspitzengefühl. Den Schwerpunkt Multikulti hat Bilgin als Geschäftsführer bewusst gewählt. Der Bedarf sei da, besonders bei den in der Chemiestadt lebenden Türken. „Sie wollten hier arbeiten, einen Traktor kaufen und in ihre Heimat zurückkehren“, sagt er. „Und dann sind sie geblieben.“ Viele wüssten nicht, welche Hilfe ihnen jenseits der Rente zusteht. Die Bürokratie zu überblicken, sei ja selbst für Deutsche schwierig, meint der 35-Jährige, der gerade zum dritten Mal Vater geworden ist. „Wir informieren über die Pflegestufen und helfen den Leuten, die Anträge auszufüllen.“ Bilgin lobt die Strukturen im Raum Ludwigshafen: Die Pflegedienste seien untereinander gut vernetzt. In Baden-Württemberg sehe das anders aus. Auch die Kommunikation mit den Ärzten funktioniere, obwohl es den ambulanten Diensten an einer starken Lobby fehle. Der Bund der Pflegedienste, Balu genannt, treffe sich regelmäßig, um Informationen auszutauschen und über Probleme zu sprechen. „Da gibt es keine Eifersüchteleien, weil hier in der Region jeder Dienst dringend gebraucht wird.“ Bilgin freut sich über die positive Resonanz, die sein multikultureller Pflegedienst erfährt: „Natürlich müssen wir uns stetig weiterentwickeln. Aber unser Beschwerdeordner ist erfreulich dünn.“ Ärgerlich findet es der Dannstadter, dass die soziale Pflege in Rheinland-Pfalz so einen geringen Stellenwert hat. „Ob Krankenhaus oder Seniorenheim – überall werden händeringend zusätzliche Kräfte gesucht. Es fehlt aber der Nachwuchs.“ Dabei hätten Medizin und Pflege ein hohes Niveau erreicht, beides sei eng miteinander verzahnt. Erschreckend sei aber die permanente Überlastung des Pflegepersonals Gegen Hektik und Zeitmangel müsse dringend etwas unternommen werden. Hier sei auch die Politik gefragt. Bilgin selbst ist Quereinsteiger. Zunächst war er an der Fachschule Elektrotechnik, danach ließ er sich zum Gas- und Wasserinstallateur ausbilden. „Das war alles nicht schlecht, aber irgendwas hat gefehlt“, erzählt der Pflegedienstleiter. Seine soziale Ader entdeckte er erst, als ihm der damalige Schulleiter der Berufsfachschule in Neustadt-Böbig empfahl, ein Praktikum in der Pflege zu machen. „Dabei wollte ich da überhaupt nicht hin“, sagt er rückblickend und lacht. Aus dem Beruf Krankenpfleger sei dann aber schnell eine Berufung geworden. Dass ein Mann mit türkischen Wurzeln in der Pflege tätig ist, hat derzeit noch Seltenheitswert. Bilgin macht es Freude, Menschen behilflich zu sein. „Wir werden alle alt“, sagt er. Um so wichtiger sei es, Jugendlichen ein Vorbild zu sein. MKS-Medical ist Ausbildungsbetrieb und sein Leiter versucht, auch junge Männer dazu zu animieren, bei ihm zu arbeiten. Was Bilgin bei seiner Arbeit gegen den Strich geht, sind die Zeitfenster, die den Pflegekräften von den Krankenkassen vorgegeben werden: „Bei der Hilfeleistung im Minutentakt bleibt die Würde auf der Strecke.“ Den Affen im Zoo stehe mehr Pflegezeit zu als alten Menschen. Seine Mitarbeiterinnen müssten jeden Handgriff dokumentieren. Dies koste mehr Zeit als die eigentliche Pflege. „Gegen diese Bürokratisierung müssen wir uns alle wehren, denn zehn Minuten reden hilft den meisten Senioren mehr als zehn Tabletten.“ Geht es um türkische Patienten, muss der Pflegdienst schon beim ersten Gespräch deutlich mehr Zeit einplanen, als die Kasse vorgibt. „Das ist eine andere Kultur mit einem anderen Glücks- und Schmerzempfinden“, so Bilgin. „Alles wird intensiver erlebt. Wenn man nachfragt, schmerzt der ganze Körper.“ Aus Respekt vor der pflegebedürftigen Mutter oder dem Vater werde von den Angehörigen die komplette Krankheitsgeschichte erzählt, bis zurück in ferne Kindertage. Völlig unangebracht sei in solchen Fällen der ungeduldige Blick auf die Uhr: „Das wäre genauso ungezogen wie das Betreten der Wohnung in Straßenschuhen.“

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