Rheinpfalz Odyssee bringt Vietnamesin nach Schmalenberg

SCHMALENBERG. Tausende Syrer, Somali und Iraker fliehen auf Booten im Mittelmeer vor Krieg und Terror. Es ist nicht die erste Flüchtlingswelle. Ende der 70er Jahre waren ebenfalls Tausende als Boatpeople im südchinesischen Meer auf der Flucht. Thi Phuoc Nguyen, die heute in Schmalenberg wohnt, war eine von ihnen.

Thi Phuoc Nguyen flüchtete Mitte der 70er Jahre mit ihren Sohn und ihrem kleinen Bruder über das Meer von Vietnam nach Thailand. Sie war eine der Boatpeople und nahm alle Gefahren auf sich, weil sie sich nicht vorschreiben lassen wollte, was sie zu denken hat. Ihr Nachname ist in Vietnam so häufig wie Müller und Maier in Deutschland, aber die Geschichte der Frau ist aufregend und alles andere als alltäglich. Thi Phuoc wurde 1955 geboren, ging auf eine amerikanische High-School und studierte Wirtschaft an einer privaten Universität in Saigon. Sie fühlte sich frei. Bis 1975 die Kommunisten kamen und sie in eine Arbeitsgruppe für Räumungsarbeiten in privaten Häusern und Verwaltungsgebäuden steckten. Die Studenten sollten den Staat mit aufbauen helfen. Aber im Grunde ging es nur darum, die Unterlagen von früher zu beseitigen, damit die Spuren der Vergangenheit schneller verschwinden. Danach könne sie wieder studieren, sagte man ihr. Aber es kam alles anders. Sie gebar ein Kind von ihrem Lebensgefährten, dessen Eltern einen bedeutenden Zeitungsverlag im damaligen Saigon hatten. Seine Familie musste aus politischen Gründen flüchten. So kam es, dass der Vater ihres Sohnes Baotran plötzlich in Paris war. Thi Phuocs Blick wird traurig: „Ich war damals 21 und fühlte mich im Stich gelassen. Meine Papiere taugten nicht, um mitzukommen.“ Ihr Lebensgefährte wurde zum Brieffreund, anders war ein Kontakt nicht möglich, und sie entschied, ihm so schnell wie möglich zu folgen. Über das Meer. In der Zwischenzeit übernahmen die Kommunisten die private Universität, tauschten Professoren aus und änderten Lehrpläne. Ihr Wirtschaftsstudium war unmöglich geworden und sie begann, als Englischlehrerin zu arbeiten. Dann kam der erste Fluchtversuch. Damit sie überhaupt auf das überfüllte Boot durfte, zahlten ihre Eltern mit Gold. Ein Barren und ein paar Splitter. Sie verließ Saigon, ging aufs Land und von dort sollte es über den Fluss zum Meer gehen. Obwohl das Südchinesische Meer nur 40 Kilometer entfernt ist, hatte sie es vorher nie gesehen. Doch die Flucht flog auf, der Plan wurde vereitelt. Beim zweiten Anlauf schaffte sie es, das Land zu verlassen. Als das Boot an der Insel Phuquoc vorbeifuhr, wurde es zwar noch einmal gestoppt, aber es waren nur korrupte Polizisten, die es auf die Wertsachen der Insassen abgesehen hatten. Aus Angst übergab Thi Phuoc dem Mann in Uniform den gesamten Familienschmuck. Heute lacht sie über ihre Naivität: „Jetzt würde ich auf jeden Fall einen Teil behalten, aber damals ...“ Kurz bevor sie nach Thailand kamen, versuchten Piraten, das Boot zu überfallen. Thi Phuoc hatte auffallend helle Haut, damals ein Zeichen für Reichtum, deswegen schmierte sie sich mit Dreck ein, damit sie nicht auffiel. Sie hatte Glück. Ihr Kapitän schaffte es, das Piratenboot abzudrängen. Trotzdem: „Die Menschen an Bord hatten Hunger und Durst und waren anfällig für Aggressionen und Streit“, erinnert sich Thi Phuoc, „es war schlimm“. Sie selbst war mit zwei kleinen Jungen unterwegs, mit ihrem dreijährigen Sohn und mit ihrem siebenjährigen Bruder. Ihre Wasserrationen gab sie den Kleinen. Sie selbst trank aus Verzweiflung Salzwasser – bis sie kollabierte. Als sie wieder zu sich kam, war Land in Sicht. Thailand, die Erlösung. Die Menschen sprangen ins Wasser, damit das Boot zerstört werden konnte. Ansonsten hätten sie die Thailänder wieder nach Hause geschickt. In Thailand wurden die Menschen in Übergangslagern aufgeteilt, je nachdem, wohin ihre weitere Odyssee sie führen sollte. Nach Europa, Kanada oder in die USA. Erst nach acht Monaten bekam sie endlich das ersehnte Ticket in die Freiheit. Ihre Schwester hatte ihr ein Flugticket nach Paris gebucht. Endlich traf sie den Vater ihres Sohnes wieder, aber sie war entkräftet, hatte zu viel durchgemacht. Die Beziehung zerbrach. Vier oder fünf Jahre arbeitete sie in einem Kleidergeschäft auf den Champs-Elysees. Dann ging alles schnell: der Mann ihrer Schwester, ein amerikanischer Offizier, hatte oft in Straßburg zu tun. Dort lernte er Kurt Petri kennen, Maschinenbauingenieur und Hobbypilot, der eigentlich aus Stelzenberg kommt. Die beiden heirateten, sie folgte ihm nach North Carolina in den USA, wo sie acht Jahre lang blieben. Auch ihre Tochter Anna kam dort 1995 auf die Welt. Heute lebt die 60-jährige Vietnamesin mit ihrer Familie in Schmalenberg in der Pfalz. Mit ihrer Schwester, die sie nach Paris geholt hatte, betreibt sie ein Nagel- und Kosmetikstudio in Landstuhl. Dennoch: In ihrer Küche zu Hause duftet es nach Pho-Suppe, einem traditionellen vietnamesischen Gericht, das mit Rindfleisch und Markknochen aufgekocht und mit Reisnudeln serviert wird. Vietnam ist trotz allem ihre Heimat geblieben. Der Familie wegen. Das erste Mal kehrte sie dorthin zurück, als sie noch keine Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich hatte. Das Heimweh trieb sie. Sie wollte ihre Eltern sehen und ihre beiden Geschwister, die dort geblieben waren. Die anderen vier sind in der Welt zerstreut: in den USA, in Belgien, in Frankreich. Eine richtig internationale Familie sind die Nguyens inzwischen. Die gebürtige Vietnamesin Thi Phuoc hat einen französischen Pass, lebt in Deutschland, spricht mit ihrer Familie zu Hause meist Englisch, aber mit ihrem Sohn französisch. Er ist in Paris geblieben, hat Wirtschaft studiert, wie sie es selbst wollte, als sie jung war, und arbeitet jetzt in einer Bank. Ihre Tochter Anna hat gleich zwei Pässe, denn sie hat die amerikanische und die deutsche Staatsbürgerschaft. „Wer weiß, was passiert wäre, wenn ich damals nicht nach Paris, sondern nach Kanada oder in die USA gegangen wäre“, sinniert sie. Das Leben ist merkwürdig. Man trifft eine Entscheidung und alles geht in eine Richtung weiter, an die man vorher vielleicht gar nicht gedacht hätte.

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